Die neue BJP-Regierung ruht sich nicht auf den Lorbeeren ihres überragenden Wahlsiegs vom 24. Mai aus. Wer gehofft hat, dass Narendra Modi in der Stunde seines Triumphs die Wunden seines aggressiven Wahlkampfes heilen würde, sieht sich enttäuscht. Im Gegenteil. Er machte sich umgehend daran, die demokratischen Institutionen der Republik umzupflügen. Die Saat einer illiberalen Demokratie geht jetzt auf.
Radikaler Umbau
Der Regierungschef fühlt sich dazu legitimiert. Der erste Wahlsieg von 2014 war noch mit einer Agenda von allgemeinem Wohlstand, Modernität und einer muskulösen Nation errungen worden. Diesmal waren bereits im Partei-Manifest die Konturen einer ethnisch gefärbten Hindu-Nation deutlich vorgezeichnet worden.
Der Wahlkampf mit den zahlreichen (und nicht geahndeten) Verletzungen der elektoralen Spielregeln nahm bereits vorweg, was nun Realität wird: Was Demokratie ist, bestimmt die Mehrheit. Der Wahlsieg, noch grösser als jener von 2014, gibt Modi das grüne Licht für diese Politik.
Der Premierminister und sein Ausführungsgehilfe Amit Shah haben ihre Handschuhe ausgezogen und beginnen nun offen mit dem Umbau des demokratischen Staats und von dessen Schutz der Individual- und Gruppenrechte. Im ersten Anlauf von 2014 waren es noch fanatische Hindutva-Schläger gewesen, die den gefährdeten Gruppen – religiösen Minderheiten, Dalits, Frauen – den Tarif von Furcht und Schrecken durchgaben.
Unsicherheit
Nun sind diese plötzlich verschwunden. Unsicherheit ist gesät, jetzt geht es darum, diese strukturell zu untermauern. Nichts zeigt dies drastischer als die Berufung des BJP-Präsidenten Shah zum Innenminister. War es früher die Partei und das Hindutva-Netzwerk, das auf der Strasse den neuen Ton angab, sind es nun Staat und Parlament, die auf legalem Weg die Strukturen eines anti-minoritären Staats schaffen.
Diese Minorität sind in erster Linie die Muslime. Gewalt gegen Frauen und Dalits sind quasi Kollateralschäden. Man muss sie in Kauf nehmen, ist doch der ideologische Bodensatz von religiösem Fanatismus derselbe wie patriarchalischer Autoritarismus und hierarchisches Kastendenken.
Mit Lynchjustiz kann man die Muslime zwar einschüchtern. Doch erst mit einer umfassenden legislativen Architektur kann es gelingen, eine Bevölkerungsgruppe von 200 Millionen Menschen zu marginalisieren und zu Bürgern zweiter Klasse zu machen.
Aussonderung und Vertreibung
Die ersten Umbaumassnahmen betreffen denn auch die legale Aussonderung der Muslime. Statt dies frontal zu tun (und damit internationale Kritik zu riskieren), läuft das erste Experiment zur Zeit im ostindischen Bundesstaat Assam ab. Das fruchtbare Tal des Brahmaputra-Stroms mit seinen Teegärten und Reisfeldern hat schon lange Migranten aus ärmeren Regionen angezogen, was zu ethnischen Konflikten geführt hat.
Besonders kritisch ist Assams Nachbarschaft zum muslimischen Bangladesch. Mit dessen turbulenter politischen Geschichte und demografischen Dichte schafft es sich mit der grünen Grenze zu Indien Luft. Assam wird damit für die BJP zu einem willkommenen Labor, um ihre ethnischen Säuberungsexperimente durchzuführen.
Der Sieg in den Regionalwahlen vor zwei Jahren gab der BJP die erwünschte Gelegenheit, das „Ungeziefer“ (Amit Shah) aus dem Nachbarstaat loszuwerden. In einem „National Registry of Citizenship’“ müssen alle 35 Millionen Einwohner beweisen, dass sie oder ihre Eltern bereits vor 1971 in Assam lebten. Sonst verlieren sie ihr nationales Bürgerrecht. Bisher wurden bereits über vier Millionen Einwohner ausgesondert, und die Behörden haben damit begonnen, sie aus ihren Siedlungen zu vertreiben und zu internieren.
Verbot der Diskriminierung
Nun sind allerdings bei weitem nicht alle von ihnen illegal eingewanderte Muslime aus Bangladesch. Es gibt auch zahlreiche indische Muslime; und es gibt viele Hindus, die, sei es aus anderen Teilen Indiens, sei es als Flüchtlinge aus Bangladesch, in Assam leben und arbeiten. Um diese auszusieben, hat die BJP-Regierung vom Parlament in Delhi bereits in der letzten Legislaturperiode eine Änderung des Bürgerrechts-Gesetzes angefordert.
In dieser Vorlage wird für Migranten aus den Nachbarstaaten eine gesonderte Einbürgerungspraxis vorgesehen: Sind sie Hindus, Christen oder Buddhisten, wird ihnen die Einbürgerung erleichtert. Nicht genannt – und damit von der Einbürgerung ausgeschlossen – sind die Muslime. Das ist eine flagrante Verletzung der Verfassung, die jede Diskriminierung aufgrund religiöser Zugehörigkeit verbietet.
Fadenscheinige Begründung
Dennoch passierte die Gesetzesnovelle die erste der beiden Parlamentskammern. Die Kritik aus den Reihen der Opposition kontert die Regierung mit dem Argument, die Migranten kämen aus Nachbarstaaten mit muslimischen Mehrheiten wie Pakistan, Bangladesch und Afghanistan; Muslime seien also nicht gefährdet und rechtfertigten damit keine Einbürgerung.
Es ist eine fadenscheinige Begründung. Sie zeigt sich etwa darin, dass die muslimischen Rohingya aus Myanmar sehr wohl einer gefährdeten religiösen Minderheit angehören. Myanmar ist zudem (im Gegensatz zu Afghanistan) ein direkter Nachbarstaat Indiens. Doch im Gesetzesentwurf wird Myanmar in der Liste berechtigter Staaten einfach … weggelassen.
Bürokratische Schikanen
Auf den ersten Blick treffen diese beiden Rechtsinstrumente nur Migranten, und nur Assam. Was bedeuten sie aber für die grosse Mehrheit der Muslime, von denen viele seit Hunderten von Jahren in Indien leben? Deren Bürgerrecht wird scheinbar nicht angetastet. Doch mit der Ausweitung des „National Citizen Registry’“ auf ganz Indien und in der administrativen Praxis wird mit einem solcherart selektiven Instrument plötzlich jeder indische Muslim zu einem potentiellen und illegalen Migranten – bis zum Beweis des Gegenteils.
Muslime müssen ihr Bürgerrecht mit einem Geburtsschein und jenem der Eltern stets neu beweisen. Dies gilt jedes Mal, wenn sie mit dem Staat in Kontakt kommen – beim kleinsten Verkehrsdelikt, bei der Fahrprüfung, einem neuen Mietverhältnis, vor dem Standesamt, sei es als Zeuge vor Gericht oder bei der Verifizierung irgendwelcher Dokumente. Die bürokratischen Schikanen, die Sonderbehandlung und die damit verbundene Unsicherheit erreichen genau das angepeilte Ziel: Die Muslime sind Bürger, aber solche einer Sonderklasse, so sollen sie behandelt werden, und so sollen sie sich auch fühlen.
Angst vor dem Terror
Noch bevor dieses Gesetz seine letzten Hürden genommen hat, führte Innenminister Shah weitere Gesetzesänderungen ein, die die Persönlichkeitsrechte jedes indischen Bürgers einschränken werden. Das Motiv wird auch gar nicht verheimlicht: Während die politische Parteien-Opposition bereits dezimiert ist, hat die Zivilgesellschaft immer noch die Möglichkeit, offen zu protestieren. Diese Störquelle muss gedrosselt werden.
Auch in Indien ist die Angst vor dem Terror ein bequemes Mittel, um zivilgesellschaftliche Proteste zum Schweigen zu bringen. Nun soll das bestehende Anti-Terrorgesetz mit zwei neuen Paragraphen weiter verschärft werden: Fortan können nicht nur Gruppen, sondern auch Einzelne als Terror-Verdächtige angeklagt werden.
Zudem sollen Bürger, die „durch Wort und Schrift“ dem Terrorismus Vorschub leisten, gleich behandelt werden wie solche, die der Gesellschaft mit Gewaltmitteln den Kampf ansagen. Was das heissen wird, zeigt das bereits praktizierte Vorgehen des Staats gegen Modi-Kritiker. Ein drakonischer Strafgesetz-Paragraph aus der Kolonialzeit gibt dem Staat eine bequeme Handhabe, um Kritiker der Regierung der „Volksverhetzung“ zu bezichtigen, mit entsprechend drastischen Haftstrafen.
Vor einer Woche forderten 47 prominente Persönlichkeiten die Regierung höflich auf, gegen die Hasstiraden der Hindutva-Brigaden vorzugehen. Schon dies genügte, um sie mit der Gesetzeskeule der Volksverhetzung unter Anklage zu stellen.
Paukenschlag in Kaschmir
Es ist fast unausweichlich, dass auch Kaschmir, diese schwärende Wunde im indischen Religionskonflikt, nun ebenfalls in den Brennpunkt gerät. Der Bundesstaat geniesst speziellen von der Verfassung garantierten Schutz als Kompensation dafür, dass ihm vor siebzig Jahren das Recht aberkannt wurde, sich mit einer Volksabstimmung für Indien oder Pakistan zu entscheiden.
Diese Sonderstellung ist den Hindu-Suprematisten schon lange ein Dorn im Auge. Schon vor Monaten wurde der Staat unter die Direktverwaltung Delhis gestellt. Vor einigen Tagen begann nun der eigentliche Countdown. Über Nacht wurden hundert Kompanien paramilitärischer Einheiten nach Kaschmir geflogen. Am Samstag erklärte der Gouverneur ein striktes Ausgehverbot, seit Sonntag sind die Kommunikationswege in der Region und zur Aussenwelt abgeschnitten.
Am heutigen Montag kam es nun zum Paukenschlag: Innenminister Shah unterbreitete dem Parlament eine Verfassungsänderung, die den Sonderstatus Kaschmirs aufheben soll. Der Bundesstaat, lange ein Streitpunkt zwischen Indien und Pakistan, wird nun endgültig zu einem internen Konflikt, und daran könnte sich ein neuer blutiger Bürgerkrieg entfachen. Das Wortspiel von Salman Rushdie – Kaschmir als Cauchemar – erhält eine neue Wertigkeit. Es ist ein Albtraum, der sich bald in ganz Indien ausbreiten könnte.