Es sind über fünf Jahre her, seitdem eine junge Studentin in einem Bus auf Delhis Strassen vergewaltigt, verstümmelt und aus dem fahrenden Bus auf die Strasse geworfen wurde, wo sie verschied. Das ganze Land schien traumatisiert. In zahlreichen Städten kam es zu lautstarken Protesten und Schweigemärschen, Wasserwerfern und Trauerflor.
Eine Heerschar von jungen Anwältinnen scharte sich um eine rasch eingesetzte Justizkommission und half dieser, ein verschärftes Gesetz gegen Kindsmissbrauch zu verfassen. In kürzester Zeit setzte das Parlament den Protection of Children from Sexual Offences Act (POCSO) in Kraft. Die Bundesstaaten passten ihre eigenen Anti-Missbrauchsgesetze entsprechend an, verschärften sie vereinzelt noch um das Strafmass mit dem Tod durch den Strang.
Kein Wendepunkt
War der Mord an Nirbhaya und die durch ihn ausgelöste Erschütterung ein Wendepunkt für Indiens Laxheit und Toleranz in Sachen sexueller Gewalt? Die Frage muss leider verneint werden. Zum einen hat die Zahl strafrechtlich erfasster Fälle von Kindsmissbrauch nicht abgenommen (2016 lag sie bei knapp 20’000). Dieselbe Statistik liefert gleichzeitig die Begründung für diesen Befund: Nur 28 Prozent der Gerichtsverfahren endeten in Schuldsprüchen, der grosse Rest musste mangels Beweisen niedergeschlagen werden.
Der Grund: 60 Prozent der Kläger/innen und Zeugen zogen ihre Aussagen zurück, sobald die Gerichtsverhandlungen begannen. Diese Zahl wiederum ist ein Indiz für ein noch tieferliegendes Malaise. In 95 Prozent der Fälle kannten die Kinder ihre Peiniger, will sagen: Die Angeklagten stammten aus dem familiären Umfeld der Kinder oder waren deren Nachbarn. Wie so oft hüllte sich die Omertà der familiären Gesichtswahrung über die Verbrechen; sie blieben ungesühnt.
Die Spitze des Eisbergs
Man muss bei diesen Statistiken überdies die Dunkelziffer ansprechen. Die Zahl von rund 20’000 Opfern betrifft nur die polizeilich gemeldeten Fälle. Aus unabhängigen Studien lässt sich aber schliessen, dass dies nur die Spitze eines Eisbergs von Missbrauch und dessen Verschweigen darstellt. Eine repräsentative Umfrage unter 17’720 erwachsenen Personen beiderlei Geschlechts aus dem Jahr 2007 ergab, dass 53 Prozent in ihrer Jugend mindestens einmal Opfer sexuellen Missbrauchs geworden waren. (Knapp über die Hälfte waren übrigens Knaben, eine Kategorie, die bei den obengenannten Straffällen mit -2.5% verschwindend klein ist).
Wenn sich in den letzten fünf Jahren etwas geändert hat, dann ist es die Aufmerksamkeit der Medien. Sie können den Vorhang des Schweigens zwar nicht herunterreissen, können ihn aber zumindest ein bisschen lüften. So werden Leser und Fernsehzuschauer tagaus tagein mit Vergewaltigungen an Frauen und Kindern konfrontiert, so dass die permanente Wiederholung sie wieder zu einem Non-Event zu machen droht.
Resignation statt Empörung
Ebenso alltäglich wie diese Nachrichten ist zudem die ethnische Herkunft der Opfer. In ihrer grossen Zahl sind es kastenlose Dalits, Stammesbewohner und Musliminnen. Auch dies fördert die perzeptuelle Kurzsichtigkeit und das Empathiedefizit der Medienkonsumenten. Deren Mehrzahl gehört nicht diesen ethnischen Gruppen an, und die soziale Distanz bewirkt eher Resignation als Empörung.
Um die städtische Mittelschicht auf die Strasse zu treiben, bedarf es in einer Zeit konstanter Datenberieselung geradezu bizarrer Verbrechen, die neue Tiefpunkte der Abscheulichkeit setzen. Ein solcher Fall platzte dieser Tage an die Öffentlichkeit, obwohl die Tat selber schon über drei Monate zurückliegt.
Die achtjährige Asifa
Am 10. Januar wurde in einem kleinen Dorf im südlichen Hügelgebiet von Kaschmir ein achtjähriges Mädchen namens Asifa entführt. Zwei junge Männer verschleppten sie in einen Tempel, zwangen sie zum Schlucken narkotisch wirkender Medikamente. Sie fesselten ihr Opfer und vergewaltigten es. In den folgenden Tagen kamen weitere Männer hinzu, darunter der Onkel eines der Täter, Sanji Ram, und mehrere lokale Polizeibeamte.
Fünf Tage später erwürgten die beiden Jungen das Mädchen, doch nicht bevor es von den Beteiligten noch einmal vergewaltigt wurde. Dann schlugen sie ihm sicherheitshalber den Schädel ein, bevor sie die Leiche in einem Wäldchen liegenliessen, wo die Eltern sie am 17. Januar fanden.
Opfer von Gewalt
Trotz der Verwischung der Spuren – die Polizeibeamten selbst reinigten laut Anklageschrift einzelne Kleiderteile – war den Bakherwals sofort klar, dass Afisa ein Opfer von Gewalt geworden war. Die Bakherwals sind ein nomadisches Hirtenvolk in Kaschmir. Jedes Jahr ziehen sie nach der Schneeschmelze mit ihrem Vieh – Schafen, Ziegen, Pferden, manchmal auch Kühen – in die Berge, wo die Tiere über den Sommer die Hochgebirgsweiden abgrasen.
Den Winter verbringen sie in der Jammu-Region in Süd-Kaschmir, wo sie vielfach kleine Bodenparzellen besitzen. Jammu wird mehrheitlich von Hindus bewohnt, und die Bakherwals sind Muslime. Das friedliche Zusammenleben beider Gemeinschaften ist auch hier in den letzten Jahren immer grösserer Distanz gewichen, mit der winzigen und als Nomaden ohnehin verzettelten Volksgruppe der Bakherwals als Opfer.
Diabolischer Plan
Es mag sein, dass sich die Hindus in ihrer Lebensart durch die saisonale Anwesenheit der Hirten bedrängt fühlen, obwohl ihre Zahl kaum 60’000 Personen zählt – inmitten einer Millionenbevölkerung von Hindus. Wahrscheinlicher ist, dass Letztere es auf deren Landbesitz abgesehen haben, und dass sie dafür die religiöse Feindschaft ins Feld führen können. Dies geschah im kleinen Dorf Rasana, wo ein ehemaliger Steuerbeamter namens Sanji Ram laut Polizei beschlossen hatte, die paar Bakherwal-Familien endgültig zu vertreiben.
Dafür heckte er einen diabolischen Plan aus: Warum nicht ein kleines Mädchen entführen, vergewaltigen und töten? Dies würde die Nomaden derart verunsichern, dass sie mit Familie und Vieh für immer das Weite suchen würden. Ram war sich seiner Sache sicher. Er hatte vier ähnlich gesinnte Polizeibeamte im Dorf und im Bezirkshauptort in seinen Plan eingeweiht und bestochen. Sie würden dafür sorgen, dass die Untersuchung aufgrund mangelnder Beweise bald einmal im Sand verlaufen würde.
Forderung nach Freilassung der Täter
Der Plan ging nicht auf. Einer der jungen Täter ging nach Delhi in sein College zurück und prahlte gegenüber einem Kommilitonen von seinem Exploit. Dies gab der polizeilichen Nachforschung eine andere Richtung. Bisher war diese auf lokaler Ebene geführt worden, und die Beamten hatten falsche Spuren gesetzt, statt die wahren zu finden. Nun wurde die Kriminalpolizei beigezogen und es war ein relativ Leichtes, die Tat aufzudecken.
Was nun folgt, gibt der schieren Beiläufigkeit des Verbrechens noch eine zusätzliche Drehung ins Perverse. Am 17. Februar kam es im Gerichtsort von Kathua zu einer grossen Protestdemonstration. Diese richtete sich aber nicht etwa gegen die Täter, sondern setzte sich für deren Freilassung ein. Ähnlich war es bei einem Streik der Anwälte – die meisten sind BJP-Mitglieder –, die gegen die gerichtliche Verfolgung der Tat protestierten.
Versuch der ethnischen Säuberung
Ein Mitglied der lokalen BJP gründete kurzerhand eine Organisation mit der expliziten Zielsetzung, das Verbrechen an einem Kind in ein Komplott der Muslime – der Bakherwals, des muslimischen Polizeikommissars, der kaschmirischen Regierung – umzudrehen. Die mörderischen Vergewaltiger mutierten zu Opfern und Märtyrern des Hindu-Nationalismus.
Abstossend war also nicht nur die beiläufige Kaltblütigkeit, Vergewaltigung und Mord an einem Kind als Mittel für einen politischen und profitablen Zweck einzusetzen. Ebenso pervers war der Versuch, die Gewalttat zu rechtfertigen und zu versuchen, damit die Gesellschaft ethnisch zu säubern, sei es von Hirten oder unerschrockenen Polizeibeamten. Die BJP-Regierungspartei in Delhi unternahm derweil nichts gegen ihre Vertreter, darunter zwei Minister der Provinzregierung, die sich an der Demonstration beteiligt hatten.
Es war vielleicht das schlechte Gewissen der nationalen Medien für ihr langes Schweigen, das schliesslich dafür sorgte, dass sie das Verbrechen an Asifa nun eine Woche lang umfassend dokumentiert haben. Ebenso selbstkritisch sind die liberalen Stimmen, die sich in den grossen Zeitungen zu Wort melden. Ganz Indien muss, schrieb etwa der Menschenrechtler Harsh Mander im Indian Express, endlich in diesen Spiegel blicken – und sich zur Fratze bekennen, die ihm dort entgegenstarrt.