Der Boykott russischer Energielieferungen wird mit Moral begründet: Von Schurken kauft man nicht. Das leuchtet ein. Aber wie soll es weitergehen? Die Moral kann auch zu Ergebnissen führen, die ihrerseits unmoralisch sind.
Vorwürfe an diejenigen, die bislang mit moralisch fragwürdigen Regimen Handel getrieben haben, werden heute leicht erhoben. Dabei wird eine wichtige Annahme übersehen, die bis vor Kurzem im Westen allgemein geteilt wurde. Sie bestand in dem Glauben, dass Waren und Dienstleistungen mitsamt dem damit verbundenen wirtschaftlichen Austausch immer auch Vehikel für den Transport westlicher Werte sind. Denn sie bewirken Komfort und Fortschritt, und die passen nicht zu Zwang und Willkür diktatorischer oder vormoderner Gesellschaften.
Der Markt wurde als weltumspannende moralische Besserungsanstalt auf freiwilliger Basis angesehen. Dunkle Keller und Verliese würden über kurz oder lang ausgeleuchtet und saniert werden. Dabei kam man nicht auf die Idee, dass manche Kerkermeister gar nicht beabsichtigen, ihr Treiben zu beenden. Sie nehmen am Handel teil, ohne auch nur an Wandel zu denken.
Putin ist nicht das einzige moralische Problem. Wenn man von ihm kein Öl und Gas beziehen will, braucht man andere Lieferanten. Robert Habeck war jüngst in Katar. Das Land ist ebenso wenig eine Ikone der Demokratie wie die Vereinigten Arabischen Emirate. Und das Geld für saudisches Öl sollte nicht unabhängig vom Krieg in Jemen betrachtet werden.
Es geht nicht nur um Energielieferungen. China wurde insbesondere von der deutschen Automobilindustrie als wichtigster Zukunftsmarkt behandelt. Hightech-Firmen wie Siemens und Bosch orientierten sich ebenfalls stark nach China und versuchten dabei, die massiven Menschenrechtsverletzungen ebenso zu ignorieren wie die schamlose Einvernahme Hongkongs.
Inzwischen ist durch Russland eine ethische Einsicht, die gerne verdrängt wurde, grell beleuchtet worden: Auch fernes Unrecht betrifft uns. Man kann davor die Augen verschliessen, aber dieses Unrecht frisst sich immer weiter, bis es an die eigene Tür klopft. Deswegen ist es kein akademisches Problem, dass Russland Vernichtungskriege in Tschetschenien und Syrien führte oder ob China die Uiguren quält und möglicherweise auslöscht. Sich dadurch moralisch betroffen zu fühlen, zeugt von Realismus.
Wenn Wirtschaftsbeziehungen nicht als Motor für ethische Verbesserungen angesehen werden können, ist die Neubewertung von Beziehungen zu Schurkenstaaten ein Gebot der Moral. Doch zur Moral gehört auch, die Folgen zu bedenken, oder wie es der Soziologe Niklas Luhmann wiederholt formulierte: Es kann auch Aufgabe der Moral sein, vor der Moral zu warnen.
Der Abbruch von Handelsbeziehungen hat, wenn sie sich nicht durch andere Marktteilnehmer kompensieren lassen, für den moralisch Geleiteten Nachteile: Energiemangel, Rückgang der Produktion, Wohlstandseinbussen. Die damit einhergehenden sozialen und politischen Verwerfungen können die moralischen Boykott-Gewinne mehr als aufzehren: Aus den Guten werden neue Übeltäter. Wer dies mitbedenkt, wird das Mittel des Boykotts wie ein Medikament mit schweren Nebenwirkungen betrachten.
Aber dieses Argument verlangt ein höchstes Mass an Redlichkeit. Denn der Missbrauch, dass es als blosse Ausrede für die Weiterverfolgung blosser Geschäftsinteressen verwendet wird, liegt allzu nahe. Die bittere Einsicht besteht darin, dass eine Gesellschaft nicht aus dem System der Wirtschaft aussteigen kann. Sie kann Handelsbeziehungen abbrechen oder sie weiterführen: Jede Option ist eine wirtschaftliche Entscheidung, die nicht aus den Fragezeichen der Moral herausführt.