Rimski-Korsakow (1844-1908) gilt für viele als ein zweitrangiger Komponist, etwa im Vergleich zu Tschaikowski oder Mussorgski. Es hängt damit zusammen, dass er – etwa bei Bearbeitungen von Opernwerken von Mussorgski und Borodin – sich die Freiheiten eines romantischen Melodikers nahm und die «Härteseiten», man könnte auch sagen: das Schock- und Neuerungspotential der ursprünglichen Kompositionen glättete und für das Publikum hörgefälliger machte.
Dennoch sind seine Verdienste um die russische Opernkultur enorm. Hätte er unfertige Werke seiner Komponisten-Kollegen nicht bearbeitet, orchestriert und bühnentauglich gemacht und hätte er selbst nicht russische Themen in den eigenen Kompositionen derart vielfältig und gekonnt auf die Opernbühnen gebracht, wäre die russische Musikkultur um vieles ärmer. Denn Rimski-Korsakow war ein europäisch ausgebildeter Musiker, der in den Techniken des Kontrapunkts, der Fugenkunst, des Harmoniewechsels und der raffinierten Instrumentation höchst bewandert war.
Andererseits kannte er die russische Kirchen- und Volksmusik sowie die bäuerlichen und die höfischen Tanztraditionen sehr genau. Er wusste, was die gebildeten Schichten Russlands gegen Ende des 19. Jahrhunderts in Konzertsälen und auf den heimischen Opernbühnen sehen und hören wollten. In besonderer Weise hatte er ein Ohr – und gewiss auch ein Faible – für alles Exotische, zumal Orientalische. Ebenso für das Märchen- und Feenhafte, das sich von der gestrengen zentralrussischen orthodoxen Kultur lebensbereichernd abhob.
Russische Geschichte individualisiert
«Die Zarenbraut» (Originaltitel: Zarskaja newesta) war Rimski-Korsakows neunte Oper und hatte ihre Uraufführung 1899 im Rahmen einer Produktion der Künstlertruppe des Industriellen und Opernmäzens Savva Marmontow. Das Libretto – nach einem Theaterstück gleichen Namens des russischen Schriftstellers Lew Alexandrowitsch Mei – schrieb der Komponist selbst zusammen mit I.F. Tjumenew.
Das Stück spielt in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts, zur Zeit von Zar Iwan IV. (1530 -1584) mit dem Beinamen Grosny (der Strenge), im Westen jedoch der Schreckliche genannt. Der Zar tritt im Stück kurz sogar selbst als vorbeireitende Gestalt auf, eine stumme Erscheinung, nur für wenige Augenblicke auf der Bühne, mit einer wohl seine eigene Herrscher-Aura beschützenden Stimmlosigkeit. Die geheimnisvollste Macht gibt keinen Ton von sich!
Die Saga will, dass der Monarch nach dem Tod seiner zweiten Frau unter 40 mal 40 potentiellen Zarenbräuten seines weiten Reiches sich seine dritte Zarin auswählen konnte. Er wählt Marfa, die Tochter des Händlers Sobakin, ein Naturkind und eine strahlende ländliche Schönheit. Gegen den Wunsch des Zaren gibt ist keine Widerrede. Marfa, die seit ihrer Kindheit Iwan Lykow liebt, der längere Zeit im Ausland weilte und nun wieder als Bojar zurück ist. Zwischen den beiden ist die Verlobung geplant. Doch Marfa hat sich der Zarenwahl zu fügen.
Liebestrank, Gift und Dolch
Das Unglück will es, dass noch ein dritter Anwärter auf Marfas Liebe ins Spiel kommt: der Bojar Grjasnoj, bisher mit der so attraktiven wie raffinierten Ljubascha liiert. Doch er ist der Dame inzwischen überdrüssig und wirft ein Auge auf die schöne Marfa. Grjasnoj gehört zu den sogenannten Opritschniki, also zur Leibgarde des Zaren, welche diesem im Gegensatz zu den fürstenähnlichen und herrschaftsgierigen Bojaren absolut loyal, aber in der Verteidigung der Interessen des Zaren geradezu ex officio brutal und verbrecherisch ist.
Hier kommt nun das Intrigenspiel der handelnden Personen im Umfeld des Zarenhofs zum Zug. Grjasnoj besorgt sich von dem zwielichtigen deutschen Arzt am Zarenhof Bomeli einen Liebestrank, um Marfa mit diesem Zaubermittel verliebt und gefügig zu machen. Doch seine frühere Geliebte Ljubascha ahnt Verluste und besorgt sich beim Kräuterdoktor Bomeli Gift, um ihre Rivalin Marfa aus dem Weg zu räumen. Sie schafft es denn auch, die Trinkbecher zu vertauschen, sodass Marfa nicht den Liebestrank, sondern das langsam ihr Leben verzehrende Gift zu sich nimmt. Historische Tatsache ist, dass Marfa Sobakina, Iwans IV. dritte Frau, zwei Wochen nach der Eheschliessung aus nicht geklärten Ursachen starb. Es sollten nachfolgend noch vier weitere seiner Zarenbräute diese zweifelhafte Ehre und ein unrühmlich tragisches Ende haben.
Die Oper freilich hat ihre eigenen dramatischen Bedürfnisse und ihr eigenes Recht, die Historie auszumalen. Hier ist es der die Gewaltwilligkeit der Opritschniki verkörpernde Grjasnoj, der mit dem Dolch sich seines Rivalen Lykow entledigt. Und damit nicht genug: Er rächt sich auch an seiner früheren Geliebten Ljubascha, welche den Liebestrank bewusst mir dem Gift vertauscht hatte, indem er sie auf offener Bühne ersticht, bevor er sich leidensbereit einem strengen Gerichtsurteil stellen will.
Der Traum
Als Marfa von Grjasnoj im 4. Akt der Oper zu hören bekommt, ihr Verlobter selbst habe sie vergiftet, damit sie auch dem Zaren nicht gehören könne, fällt Marfa in Ohnmacht. Doch sie erwacht noch einmal und hält nun in ihrem Wahn Grjasnoj für ihren ermordeten Verlobten Iwan Lykow. Unter den zahlreichen Wahnsinns-Arien der Operngeschichte ist diese Traum-Arie der Marfa eine der ergreifendsten. Dass Rimski-Korsakow ein begnadeter Lyriker war, wird spätestens mit dieser Arie unüberhörbar. Eine tragische Melancholie russischer Art ergreift hier die Zuhörenden, ob sie es wollen oder nicht.
Davon berichtet diese Arie: Marfa will ihren Iwan zu einem Spaziergang in den Garten einladen. Denn der Tag ist schön und das grüne Gras duftet. «Schau doch mal, ob du mich fangen kannst!» Marfa klatscht in die Hände. «Siehst du, du hast mich doch nicht gefangen!» Sie gerät ganz ausser Atem. Nun pflückt sie eine blaue Glockenblume. Gemäss einer russischen Sage beginnen diese Glocken in der Johannisnacht zu läuten. Das ist in der russischen Tradition die Nacht, in welcher viele Wunder geschehen. Marfa fordert Iwan auf, sich zu ihr zu setzen, unter einem immerblühenden Apfelbaum.
«Ach, dieser Traum! Dieser Traum!» singt sie. Über die Häupter der Liebenden erstreckt sich der Himmel wie ein Zelt, «Wie wunderbar Gott ihn gewebt hat, als wäre er aus dunkelblauem Samt.» Marfa möchte von Iwan wissen, ob in fremden und fernen Ländern der Himmel genauso aussieht wie in Russland. Und sie erblickt, wie hoch oben in den Wolken eine Krone schwebt. «Solche Kronen, mein Liebster, werden auch wir morgen tragen.» Denn sie träumt, wie morgen die Hochzeit mit ihrem Iwan stattfinden wird.
Dieser Wahntraum gaukelt ihr ein letztes Mal Glück und Schönheit und Seelenfrieden vor. Marfas letzte Worte in der Oper lauten, als der Mörder und Verleumder Grjasnoj abgeführt wird: «Komm doch morgen, Wanja!» Das Erwachen aus dem Traum wird nichts sein als ein langsames Verdämmern des Lebens. Die russischen Künstler haben schon gewusst, was ein Glück und was ein Lebenselend ist. Und Rimski-Korsakow hat es hervorragend verstanden, für beides die richtigen Töne zu finden. Seine «Zarenbraut» ist nichts mehr und nicht weniger als eine uns bis heute tief bewegende Meisteroper.
Wir hören Marfas Arie gesungen von der russischen Sopranistin Oxana Shilova, eine Aufnahme aus dem Grossen Saal der St, Petersburger Philharmonie im Jahr 2016.