Auch die Nato kann die Aussengrenzen der EU nicht sichern. Es braucht einen Marshall-Plan.
Kürzlich war ich im Rahmen meines Anwaltsberufes mit einem Menschen aus Somalia konfrontiert. Er war auf dem strapaziösen Weg nach Schweden. Beinahe wäre auch sein Schiff untergegangen. Dummerweise wurde er in der Schweiz anlässlich einer Kontrolle aufgehalten. So musste er sein Asylgesuch hier stellen, statt wie vorgesehen in Schweden. Andere Länder winken solche Passagiere längst durch. Ob er eine Chance auf Asyl hat, weiss ich genau so wenig, wie ob er rückgeschafft werden könnte. Wahrscheinlich ist er einer jener Grenzfälle zwischen Asyl- und Migrationsrecht.
Eine pointierte These bezüglich dieser Grenze vertritt der belgische Migrationsforscher François Gemenne in einem Interview mit dem Tagesanzeiger im April 2015. Er formulierte die aufsehenerregende Ansicht, die einfachste Lösung des Flüchtlings- und Migrationsproblems wäre, die Grenzen vollständig zu öffnen und alle Migration aufzunehmen. Von einem Tag auf den andern verlören dadurch die Schlepper ihr Geschäftsmodell. Er sieht zwei Gründe, warum sich jemand zum Auswandern entschliesst: entweder um sein Leben zu retten, um nicht als Oppositioneller in Gefängnis zu müssen, einer Diktatur oder Krieg zu entgehen. Oder um wirtschaftlich aufzusteigen und zu Hause verbliebene Familienmitglieder zu unterstützen. Im Resultat geht er davon aus, dass bei offenen Grenzen nicht mehr Menschen kämen, aber es gäbe keine Toten. Dies formulierte er allerdings vor der grossen Flüchtlingswelle im Hebst, die sich freilich damals schon abzeichnete. Diese Kampfansage an die Festung Europas fand damals wie heute wenig Widerhall, wird aber zum Beispiel in kirchlichen Kreisen ausführlich diskutiert. Sie heute zu propagieren, erwiese sich wohl als vergebene Liebesmühe, denn der gesellschaftliche Druck weist in die gegensätzlichste Richtung: Abriegelung, schärfere Grenzkontrollen, Rückschaffung, beschränkter Familiennachzug, Einengung des Asylrechts.
Abschied von der Globalisierungslogik
Als zu verifizierender Denkansatz bleibt er aktuell, bedarf aber einer wichtigen Ergänzung: Wie findet die Einweg-Migration ihre Umkehr? Wie wird verhindert, dass nicht zuletzt afrikanische Staaten innerlich ausbluten, ihre besten Leute an die Wohlstandszonen des Westens verlieren und kein Rückfluss an Wissen und handwerklichen Fähigkeiten stattfindet. Da genügt Entwicklungshilfe nicht, denn entscheidend wird es sein, die einen neuen Typ von Sklaven produzierenden Strukturen der globalen Rohstoffkonzerne und anderer Globalplayer zu zerschlagen. Nur: wer hat ein Interesse daran? Sicher tut ein Marshalplan für Nordafrika, von welchem heute die Rede ist, Not, es braucht ihn für ganz Afrika. Er kann indessen nur zum Erfolg führen, wenn er weg von der Globalisierungslogik in ein Regionalkonzept übergeht, in welchem einheimische Industrien und Wirtschaftszeige zu Hauptträgern werden, die nicht vom internationalen Finanzkapital, sondern von demokratischen inländischen Institutionen kontrolliert werden.
Der Ansatz von Gemenne evoziert natürlich eine grundsätzliche Frage: Ist unser Asylgesetz überhaupt noch zeitgemäss, erscheint es nach wie vor als richtig, zwischen Migration und Asyl und Kriegsflüchtlingen zu trennen? Diese Frage wird ja heute von links wie von rechts gestellt, allerdings mit völlig unterschiedlichen Intentionen. So wird von linker und grüner Seite teilweise eingewandt, es sei gar nicht mehr möglich, zwischen einer Flucht aus Existenznot und einer auf Grund einer Bedrohung an Leib und Leben zu unterscheiden. Umso mehr, wenn neue Tatbestände wie Flucht aufgrund der Klimakatastrophe zusehends in den Vordergrund rückten.
Degoutanter Diskurs der SVP
Ein Teil der SVP will das Asylrecht abschaffen mit dem Argument, es gäbe gar keine Fluchtgründe mehr, die jenen des zweiten Weltkrieges adäquat seien, in dessen Kontext das Asylgesetz zu sehen sei. Ein törichter und degoutant höhnischer Diskurs.
Auch wenn die Abgrenzung zwischen Asyl- und Migrationsrecht manchmal fraglos schwierig ist, bleibt das Festhalten am Asylgesetz und dessen Menschenrechtsgrundlage ein zentrales Gebot der Stunde. Navid Kermani ist sicher einer der derzeit wichtigsten Intellektuellen in Deutschland, dessen Familie aus Iran stammt. Er ist in Deutschland aufgewachsen, gläubiger Muslim und ein Dichter von grosser Spiritualität. Er sagte in einem der besten Interviews, das ich zur aktuellen Flüchtlingsdiskussion gelesen habe, beim Asylrecht und bei der Aufnahme von Kriegsflüchtlingen entscheide nur die Bedürftigkeit der Gesuchsteller; bei der Einwanderung seien indessen die Bedürfnisse des Einwanderungslandes massgebend. So banal diese Aussage tönen mag, so sehr trifft sie den Kern der aktuellen Debatte. Natürlich kann man den zweiten Satz in Frage stellen, wenn Menschen aus nackter Existenznot flüchten. Entscheidend aber ist, dass der vorrangige Bezug auf das Asylrecht Obergrenzen verbietet. Wird das in der EU nicht anerkannt, wird das Asylrecht zerschlissen. Wird die Trennung zwischen Asylrecht und Migrationsrecht aktuell aufgehoben, führt das de facto für Menschen aus Nicht-EU-Staaten, gehören sie nicht zur Globalelite, zu geschlossenen Grenzen.
Merkel hatte keine Wahl
Das wusste und weiss auch Angela Merkel. Vor kurzem Zeit noch die mächtigste Frau Europas, wird sie immer mehr isoliert. Dabei hatte sie gar keine andere Wahl, als die Grenze zu öffnen und dem Druck nach Obergrenzen standzuhalten. Hätte sie die Grenzen geschlossen, hätte man ihr die Rolle als Totengräberin der EU zugeschoben und es wären unbeherrschbare Situationen an den Grenzen entstanden, die explosiv geworden wären, ohne dass die Zugangswege damit hätten abgedichtet werden können.
Ein Vorwurf lautet, es habe kein Konzept bestanden für das „wir schaffen das“. Nur: wer hat denn überhaupt ein Konzept? Gibt es überhaupt ein Konzept angesichts der aktuellen Tragödie, wo sich jeden Tag neue Fragen stellen (aktuell: Bombardierung der syrischen Kurden durch die Türkei).
Milliarden für die Flüchtlingslager
Die lächerlichste Intention ist der diskutierte Rauswurf Griechenland aus dem Schengenvertrag. Zum einen ist es unglaublich, dass Griechenland nun seit Jahren durch Finanzdiktate von IWF und Eurozone drangsaliert wird, und man von ihm gleichzeitig Anstrengungen erwartet, die es nicht leisten kann. Die Festung Europa ist gescheitert. Die Aussengrenzen der EU können militärisch auch mit einem Nato-Krieg gegen die Schlepper nicht gesichert werden, nimmt man nicht Tausende von Todesopfern in Kauf. Damit weniger Leute flüchten, braucht es Milliardenunterstützung in den Lagern in Jordanien, in Libanon und der Türkei, wo sich die übergrosse Mehrheit der Flüchtlinge aufhält. Gleichzeitig muss die Türkei von ihrem Krieg gegen die HDP und die PKK und neuerdings gegen Stellungen der PYD, der syrischen Kurden, durch die Nato und die USA abgehalten werden.
Schliesslich gibt es einen weiteren Fixpunkt, den John Kerry als einer der wenigen führenden westlichen Politiker seit zwei Jahren begriffen hat: Ohne Russen und ohne Iran gibt es weder einen Waffenstillstand noch einen Friedensplan in Syrien. Und vergessen wir nicht, Hauptleidtragende an der ganzen Tragödie sind auch die zivilen Kämpfer der ersten Stunde gegen Asad und ihre Vereinigung, von welchen niemand etwas wissen will und die nicht einmal einbezogen sind in die Genfer Gespräche.
Um auf den Beginn zurückzukommen: Wer auch gutgemeint die Trennung von Asyl- und Migrationsrecht in Frage stellt, begünstigt derzeit die Offensive der europäischen Rechten und der SVP in der Schweiz.