Im See liegt irgendwo ein Ertrunkener, und keiner der Anwohner will mehr darin baden. Der Herr Professor, Altphilologe, ist emeritiert, und sein Haus im Grüngürtel Berlins ist behaglich, aber verwaist. Er schaut aus dem Fenster auf den See, die Zeit dehnt sich, und auf dem Oranienplatz kampieren Flüchtlinge.
Was ist mit den Flüchtlingen?
Die Melancholie des Abschieds von den Annehmlichkeiten der Universität, das Stochern in einem Leben, das nun ohne die verstorbene Ehefrau und die Geliebte, die es irgendwann nicht mehr mit ihm aushielt, auskommen muss: Es ist ein Alltag in gedämpften Licht. Es gibt ein paar Freunde in der näheren Umgebung. Sie stammen noch aus DDR-Zeiten. Was ist aber nun mit diesen Flüchtlingen, die auf dem Oranienderplatz von sich reden machen? Der Professor, Richard, beschliesst, der Sache nachzugehen.
Aber er kommt zu spät. Gerade sind die Zelte abgerissen, ist der Platz geräumt worden. Er erfährt, dass die Flüchtlinge in verschiedenen Einrichtungen untergebracht wurden, darunter einem ehemaligen Altenheim. Er beschliesst, dorthin zu gehen. Aber natürlich nicht einfach so. Wie es sich für einen Professor gehört, bereitet er sich gründlich vor. Er überlegt sich, welche Fragen er stellen will. Das ergibt eine ansehnliche Liste.
Die Konjugation
Der Leiter des Heims lässt ihn tatsächlich ein, und dank seiner Fragen kommt Richard einzelnen Bewohnern des Heims menschlich nahe. Er begleitet sie auch zu ihrem Sprachkurs und verguckt sich prompt in die äthiopisch-stämmige Lehrerin. Und immer mehr lernt er den bürokratischen Irrsinn kennen, der das Leben und das künftige Schicksal der Migranten prägt.
Jenny Erpenbeck schildert das alles mit grösster Präzision. Ihr gelingt es, einen Ton zu treffen, der warm ist, zugleich aber mit einer leichten Ironie Distanz hält. Schon der Titel des Romans, „Gehen, ging, gegangen“, enthält eine Prise davon. Denn es handelt sich dabei um die Konjugation eines der vielen deutschen unregelmässigen Verben, die ein Asylant aufgeschrieben und über sein Bett gehängt hat. Und was „gehen“ bedeutet, hat er sicher schon sehr viel früher begriffen als die Konjugation.
Der Tote in der Idylle
Die Perspektiven Richards verändern sich. Zunehmend wird ihm klar, wie unsinnig es ist, Menschen, die arbeiten möchten, nicht arbeiten zu lassen. Überhaupt wird ihm der Begriff des Asylanten zweifelhaft. Er fragt: „Warum werden sie hier eigentlich nicht nach ihrer Geschichte gefragt und dementsprechend als Kriegsopfer versorgt?“ Der Besuch bei einem Anwalt, der sich der Hilfe für die Asylanten verschrieben hat, macht Richard klar, wie willkürlich die rechtlichen Bestimmungen und ihre Anwendung im Einzelfall sind.
Aber Erpenbeck verfällt nicht in schrille Anklage. Meisterhaft schöpft sie die Möglichkeiten des Romans aus: Sie schafft eine dichte Atmosphäre, ihre Schilderungen sind authentisch, und der Rahmen, den sie kreiert, fokussiert das Ganze zusätzlich. So schildert sie von Anfang an, wie idyllisch der Professor in seinem Haus mit dem Blick auf den See wohnt. Der Ertrunkene darin aber stört diese Idylle empfindlich. Trotz intensiver Suche ist er nicht gefunden worden.
Kristalline Formulierungen
Wie kann man noch in dem See baden? Erst gegen Ende des Romans macht Erpenbeck scheinbar beiläufig darauf aufmerksam, dass es zweieinhalb Stunden dauert, um den See zu Fuss zu umrunden. Ein Toter in einem so grossen See hindert am Baden? Dem Leser steht es frei, dieses merkwürdige Faktum mit den Schilderungen Erpenbecks von den prekären Überfahrten im Mittelmeer in Verbindung zu bringen.
Und Erpenbeck gelingen kristalline Formulierungen. So schreibt sie über den Professor Richard: „Die längste Zeit des Lebens hat er im hintersten Winkel seiner Seele gehofft, dass die Menschen aus Afrika weniger um ihre Toten trauern, weil das Sterben dort schon seit jeher so massenhaft auftritt. Jetzt sass in diesem hintersten Winkel seiner Seele stattdessen die Scham darüber, dass er es sich die längste Zeit seines Lebens so leicht gemacht hatte.“
Die Lebenswelten der anderen
Schon mit ihren früheren Novellen, Romanen und Theaterstücken hat die 1967 geborene Berliner Autorin viel Anerkennung gefunden. Unter anderem erhielt sie 2013 den Josef-Breitbach-Preis. Am Ende von „Gehen, ging, gegangen“ steht eine umfangreiche Dankesliste. Die ist deswegen interessant, weil man an ihr ablesen kann, wie sorgfältig sie für diesen Roman recherchiert und wie präzise sie ihn vorbereitet hat.
Überhaupt scheint sie eine eigene Meisterschaft darin zu haben, sich in die Lebenswelten anderer zu versetzen. So staunt man zum Beispiel darüber, wie sicher sie die Gedanken und Gefühle eines emeritierten Professors schildert. Da ist kein falscher Ton, sondern sie trifft seine Mischung aus Gelassenheit und Resignation.
Grenzen
So schafft sie es, neben der Haupthandlung sein persönliches Lebensdrama im Hintergrund mitlaufen und sich entwickeln zu lassen. Vor kurzem ist seine Frau gestorben. Zunächst erweckt er beim Leser den Eindruck, dass ihn das nicht übermässig berührt. Nach und nach aber wird es ihm schwerer. Und er gesteht einem Freund, dass er seine Frau dafür „gehasst“ habe, dass sie bald sterben wird.
Und dann kommt eine Einsicht, die das Private wieder mit seiner Begegnung mit den Migranten, von denen inzwischen einige in seinem Haus wohnen, verbindet: „Damals, glaube ich, sagt Richard, ist mir klargeworden, dass das, was ich aushalte, nur die Oberfläche von all dem ist, was ich nicht aushalte.“
Jenny Erpenbeck, „Gehen, ging, gegangen“. Roman, Knaus Verlag, München 2015, 352 Seiten