Was tun Sie, wenn Sie sicher sein wollen, dass ein Konzept, eine Idee, ein Ansatz funktioniert? Sie starten eine Marktforschung. Dazu definieren Sie die Zielgruppe, grenzen diese möglichst genau ein und stellen diesen Menschen dann Fragen via Telefon, Internet oder auch mal in einem Gruppengespräch mit einem erfahrenen Moderator. Daneben studieren Sie das Konsumverhalten, beäugen die Mitbewerber und deren Aktivitäten, informieren sich über allenfalls ähnliche Produkte. Am Schluss fragen Sie dann noch Ihre Gattin, Ihre Tochter, den Mann, den Hund oder den Kanarienvogel. Und entscheiden.
Mit etwas Glück landet Ihr Produkt dann vielleicht mal in Ann Arbor, in der Nähe von Detroit (USA). Dort können Sie 110'000 Sammlerstücke meist gefloppter Produkte bestaunen. Die Idee dazu hatte Ende der 60er Jahre der Marketingberater Robert McMath. Heute gehört das Museum dem Marktforschungsunternehmen GfK.
Kreativ und vielversprechend, aber ...
Wenn Sie in der Werbung tätig sind und ein Kreativkonzept präsentieren, dann werden Sie mit grosser Wahrscheinlichkeit eine der folgenden Situationen erleben (sofern der Kunde Ihr Konzept überhaupt nach der Präsentation und Befragung unter den Teilnehmern aufgrund einer vordefinierten Checkliste gut findet): Die Layouts werden intern an Kollegen verschickt mit Bitte um Feedback, was sie dazu meinen. Das Konzept geht in ein Marktforschungsinstitut und wird untersucht. Das Konzept wird abgelehnt mit der Begründung, es sei zwar kreativ und vielversprechend, man müsste aber vor der Umsetzung erst eine Marktforschung durchführen. Dazu fehlten leider die Zeit und das Geld. Darum werde nun eben die globale (und bereites eingehend erforschte) Kampagne lokal adaptiert. Den vorgeschlagenen Titel könne man aber – leicht angepasst – übernehmen.
Tausend Meinungen sind repräsentativ
Qualitative Marktforschung (Gruppeninterviews und Expertengespräche) ist zu einem grossen Teil in erster Linie Rechtfertigung und Absicherung. Es geht nur darum, sagen zu können, dass das Konzept eingehend untersucht worden sei und der Entscheid selbstredend nicht auf dem Gusto einiger weniger beruhe. Egal, was bei der Untersuchung rauskommt. Hinweis: Diese Behauptung ist umfragemässig nicht belegt. Quantitative Marktforschung ist auch nicht viel besser: In der Schweiz gelten Marktforschungsergebnisse bereits als repräsentativ, wenn 1000 Menschen befragt werden. Die Meinung von 1000 Menschen ist also repräsentativ für die Meinung von acht Millionen Menschen. «Falsch!», ruft da der Marktforscher. Die 1000 befragten Menschen repräsentieren nur ein Segment der Gesamtbevölkerung, beispielsweise Frauen und Männer im Alter zwischen 30 und 40 mit einem Kind in ländlichen Wohngegenden. Und von denen gibt’s nur soundso viele.
Ende des Matrixdenkens
Genau an diesem Punkt kollabiert das System. Darum ist der Ausgang der jüngsten Präsidentschaftswahlen in den USA so spannend. Und so erfrischend. Was wir erleben, ist – endlich – das Ende des Matrixdenkens. Die gesamte Marktforschungsindustrie ist grandios gescheitert. Die Fernbedienung ist kaputt. Politiker können nicht mehr in ihrem Fauteuil sitzen und die Bevölkerung mit durch Marktforschung analysierte Slogans und Sprüchen steuern. Der Bürger und Konsument lässt sich nicht einfach in x/y-Skalen einteilen. Die klassischen Strukturen, wie wir sie in den letzten Jahrzehnten erlebt haben, sind vorbei.
Der Mensch entscheidet emotional. Sein Umfeld ist für ihn wichtig. Wir sind soziale Wesen, haben eine subjektive Wahrnehmung unserer selbst. Deshalb sagen wir auch nicht jedem alles, was wir denken. Das wissen natürlich Marktforschungsinstitute schon lange und haben dazu ausgeklügelte Fragestrategien entwickelt, um die tatsächliche Meinung eines Befragten aus verschiedenen Blickwinkeln abzutasten. Aber in dem Moment, in dem Sie in ein Marktforschungsinstitut gehen oder an einer Umfrage teilnehmen, sind Sie nicht mehr dieselbe Person wie spätabends in der Bar während eines prickelnden Dates oder daheim am Küchentisch, wenn Sie gerade die letzte Zahlungsaufforderung für die Steuerrechnung erhalten haben.
Der Mensch funktioniert anders
Gefragt ist Menschenverstand, das Verstehen von Menschen also. Menschen kann man nicht verstehen, wenn man nur Daten analysiert und vom Teleprompter abliest, was Textroboter da hineingetippt haben, nachdem Computer die richtige Wortwahl aufgrund von Online-Umfragen, Browser-Verhalten und Verhaltensmustern analysiert haben.
Der Mensch – das zeigen die Wahl- und Abstimmungsergebnisse in den USA, in England (Brexit) und in der Schweiz (Masseneinwanderungsinitiative) – funktioniert nicht so, wie sich das die mit der Fernbedienung in der Hand wünschen. Ganz offensichtlich läuft er derzeit zumindest im Westen der Welt aus dem Ruder, folgt nicht mehr den Befehlen, verhält sich nicht mehr so wie gewünscht – pardon – erwartet.
Wir erleben derzeit eine spannende Gegenbewegung zu all den Versuchen von Konzernen und Politikern, Menschen fernzusteuern und wie Schafherden in die gewünschte Richtung zu lenken. Denn ausgerechnet dank des Internets, der sozialen Medien, der möglichen, kostengünstigen und Instant-Vernetzung von jedem Individuum können Menschen immer schneller und mehr selber nachforschen, prüfen, abwägen, evaluieren.
Gefragt sind auch Emotionen und Mut. Sie werden kaum glauben, wie viele sensationelle, emotionale, lustige, spannende, irre, berührende Werbeideen in der Marktforschung zu Tode geschliffen worden sind. Vieles von dem, was wir in Spots, auf Plakaten und in Anzeigen sehen ist ein Rinnsal dessen, was mal als Feuerwerk präsentiert worden ist. Nur weil die Marktforschung ergeben hat, dass ein Bild zu provokativ, ein Titel zu schräg, ein Gesicht zu auffällig sein könnte, nicht ins Schema des definierten Durchschnittskonsumenten passt.
Wir brauchen mehr Stammtisch
Emotionen und Mut sind die Todfeinde des Establishments. Denn hier ist Veränderung nicht erwünscht. Es muss alles so weitergehen wie bis anhin. Control is everything. Damit die Programme nicht angepasst werden müssen, die Wahrscheinlichkeitsberechnungsformeln funktionieren. Passiert dann doch einmal etwas wie jetzt in den USA, vor kurzem in England und vor einiger Zeit in der Schweiz, dann heisst es sofort: Das waren die schlecht Gebildeten, die Unzufriedenen, die Zurückgebliebenen, die Hoffnungslosen. Ist es nicht seltsam, wenn solche Menschen die Mehrheit eines Landes ausmachen? Wie gut kann ein System sein, wenn so viele Menschen offenbar den Anschluss, das Vertrauen, die Hoffnung verlieren?
Auch der künftige US-Präsident Donald Trump hat natürlich Marktforschung betrieben. Auch er hat ganz genau analysiert, welche Hebel er bewegen und was er wie sagen muss, um eine Chance zu haben. Eigentlich hat nicht er gewonnen, sondern eben das bisherige System verloren. Die bis anhin schweigende Masse, deren Ängste und Sorgen wurden von dessen Marktforschung einfach ignoriert. Das ist auch kein Wunder. Denn wo keine Daten erfasst sind, können auch keine Szenarien daraus abgeleitet werden. Dieses System scheitert derzeit, wohin wir blicken.
Wir brauchen mehr «Gschpüri»
Das ist gefährlich, wenn daraus Instabilität resultiert. (Marktforschungsinstitute werden bereits Trends analysieren und Szenarien entwickeln). Andererseits wäre es vielleicht noch gefährlicher, wenn alles so weitergehen würde wie bisher. Denn nochmals: Hier erheben Mehrheiten ihre Stimme, nicht irgendwelche Randgruppen. Und falls doch, dann kumuliert. Am gefährlichsten erachte ich jedoch, wenn Verlierer solche Gewinner als Demagogen, Populisten, Opportunisten betiteln. Übrigens war der Demagoge in der Antike ein angesehener Redner und Führer des Volkes bei politischen Entscheidungen. Erst später in der Zeit des Absolutismus galt Demagogie als Aufhetzung des Volkes und als Gefahr für die Stabilität der Staatsform. Populisten sind ausgerechnet wir Schweizer fast alle in irgendeiner Form, denn in unserem Land werden Machteliten nicht gern gesehen. Und Opportunisten sollten nicht andere schimpfen, die es selber sind.
Wir brauchen künftig – nochmals eine nicht durch Marktforschung bestätigte These – weniger Telefoninterviews und auch weniger Cookies, die mein Browserverhalten analysieren. Stattdessen brauchen wir mehr Stammtisch, mehr Diskussion, mehr Zuhören, mehr Respekt, mehr Engagement und Verständlichkeit, mehr Eigenverantwortung und Mut zur Entscheidung.
PS: Kam es Ihnen auch so vor? Am sympathischsten war Hillary Clinton, als Sie nach ihrer Niederlage gesprochen hat. Ihre Gestik, ihr Blick, ihre Worte wirkten überzeugend, authentisch. Sie war emotional, verletzlich – weiblich. Menschlich. Ich hatte das Gefühl, dass hier erstmals Hillary Clinton selber sprach. Es war – so traurig das auch ist – ihr bester Auftritt.