Eigentlich sollte man sich nicht dazu äussern. Die Provokationen, die uns dieses Magazin in regelmässigen Abständen liefert, sind allzu durchschaubar. Man provoziert, erhofft sich eine Gegenreaktion – und bleibt so im Gespräch.
Eine politische Partei, die dem Magazin sehr nahe steht, tut das gleiche: Provokation an der Grenze des Erlaubten, Gegenreaktion, neue Provokation. Die Spirale dreht sich und die Schlagzeilen sind einem sicher. Bei der politischen Partei funktioniert das Rezept immer weniger. Auch dem Nachrichtenheft aus Zürich geht es nicht blendend.
Sagen wir nun doch ein paar Worte zu diesem neuen Artikel. Die Statistiken, auf die das Magazin zugreift, werden seit Jahren veröffentlicht. Schon vor 25 Jahren erschienen zahlreiche Berichte dazu, allerdings nuancierter, mit Angaben von Hintergründen und Erklärungen. Jetzt zieht sich ein Magazin-Journalist diesen alten Hut wieder über. Er fügt etwas Sauce und viel Polemik bei – und fertig ist der Artikel.
Die Romands mit viel Deutschschweizer Blut
Die faulen Romands. Wer sind eigentlich diese Romands? Jedensfalls verfügen sie über viel Deutschschweizer Erbmaterial. Blicken wir zurück. Da gibt es den riesigen Kanton Waadt. 262 Jahre lang wurde er von den Bernern beherrscht: beherrscht und bevölkert. Das bernische Gen, also ein Deutschschweizer Gen, ist noch heute in der Waadt stark präsent. Die Berner waren es auch, die den Kanton reformierten. Diese angeblichen Griechen der Schweiz sind also vorwiegend Protestanten.
Auf Druck der Berner war Neuenburg über hundert Jahre lang ein preussisches Fürstentum. Am Wiener Kongress 1815 wurde Neuenburg als „Schweizer Kanton und preussisches Fürstentum“ bezeichnet. Der Kanton wurde von vielen Deutschschweizern und Deutschen besiedelt. Die Neuenburger haben jahrzehntelang die Uhrenindustrie dominiert und gehören zu den arbeitswilligsten Völkern. Sind sie, die viel Deutschschweizer Blut in den Adern haben, faule Griechen?
Jeder dritte Genfer ist ein Deutschschweizer
Und Genf? Ein Drittel aller Einwohner von Genf sind Ausländer. Und ein weiteres Drittel sind … Deutschschweizer. Dazu kommen noch zwölf Prozent mit Deutschschweizer Wurzeln. An der angeblichen Faulheit der Genfer sind also die Deutschschweizer massgeblich beteiligt.
Man blättere einmal in Westschweizer Telefonbüchern. Man ist erstaunt, wie viele Deutschschweizer Namen man da findet: von Abderhalden bis Zuberbuhl. Der Protestantismus in Genf ist noch heute sehr präsent. Wer Genf mehr als nur vom Autosalon her kennt, weiss, wie rigide die Arbeitsmoral ist. Jean Calvin hatte seinem Volk – mehr als Zwingli in Zürich – eine züchtige, fast asketische Lebensweise verordnet. Es ist erstaunlich, wie stark diese Ethik heute noch nachwirkt.
“Faul und krank“
Die Romands seien nicht nur faul, sondern auch häufiger krank, schreibt das Heft. Wir wissen es: Stress macht krank. Doch die „faulen Romands“ sind ja weniger gestresst. Warum müssen Sie dann häufiger zum Arzt als die fleissigen Deutschschweizer? Etwas ist da nicht logisch. Aber um Logik geht es im besagten Artikel ja nicht, es geht um Polemik.
Es ist bewiesen: Je mehr Ärzte es gibt, desto häufiger gehen die Menschen zum Arzt. In der Genfersee-Region hat die Ärzte-Dichte in den letzten Jahren am stärksten zugenommen, in der Ostschweiz am wenigsten. In den drei Westschweizer Kantonen Genf, Waadt und Neuenburg liegt die Ärztedichte klar über dem schweizerischen Durchschnitt. In Genf gibt es rund drei Mal mehr Ärzte pro tausend Einwohner als in Uri, Ob- und Nidwalden und Appenzell Innerrhoden. Könnte nicht das der Grund, weshalb es im Westen des Landes mehr Arztbesuche gibt?
Die Westschweizer Kantone sind ein beliebter Standort für zahlreiche multinationale Firmen. Wieso lassen die sich dort nieder, wenn die Arbeiter und Angestellten dort dem „mediterranen Schlendrian“ frönen?
Nespresso, Rolex, Swatch…
Dieser Schlendrian hat Nestlé in Vevey zu einer der wichtigsten multinationalen Firmen der Welt gemacht. Zugegeben, die Chefs sind oft Ausländer und Deutschschweizer. Aber die meisten Angestellten, die wesentlich zum Erfolg beitragen, sind Romands. George Clooney würde vielleicht weniger lächeln, wenn die Westschweizer Nespresso-Angestellten so faul wären.
Oder Rolex in Genf, eine der Uhren-Edelmarken. Oder die Swatch-Gruppe, der grösste Uhrenkonzern der Welt, der vor allem in der Westschweiz produziert. Zugegeben auch: Nicolas Hayek war kein Westschweizer, aber die meisten der Angestellten waren und sind es.
Viel esprit, viel savoir-vivre
Im Genferseebogen befinden sich zahlreiche erfinderische und innovative Kleinunternehmen. Aber sie wurden vom Verfasser des besagten Artikels offenbar nicht bemerkt. Hat er überhaupt in der Westschweiz recherchiert? Oder hat er einfach eine Statistik hervorgekramt? Der Artikel zeigt auch, wie fremd sich Deutschschweizer und Westschweizer sind: wie wenig wir voneinander wissen.
À propos Innovation: Ist Bertrand Piccard, der Konstrukteur des Solarflugzeuges Solar Impulse, nicht ein Westschweizer?
Wer lange in der Westschweiz gelebt hat, ist immer wieder erstaunt, welchen esprit, welches savoir-vivre, welches Engagement die Menschen an den Tag legen. Da weht an vielen Orten ein offener Geist, ein Geist auch, der für Neues, für Unkonventionelles empfänglich ist. Selbst den jurassischen Berglern juckt es in den Adern; konservativ sind auch sie nicht.
Die Fähigkeit, einmal abzuschalten
Natürlich gibt es das auch in der Deutschschweiz. Aber vielleicht ist das savoir-vivre in der Westschweiz etwas ausgeprägter. Die Romands arbeiteten genau so viel wie wir. Doch sie haben vielleicht vermehrt die Fähigkeit, nach der Arbeit einmal abzuschalten, sich nicht ständig zu Tode zu grämen und das Leben zu nehmen wie es ist: auch von den schönen Seiten.
Sie haben auch die Fähigkeit, etwas weniger verkrampft und verbittert durchs Leben zu gehen, wie dies manche Deutschschweizer tun. Diese zeitweise Leichtigkeit des Seins verwechselt der Autor besagten Artikels mit „Schlendrian“.
Die Westschweizer Tageszeitung „Le Matin“ hat auf den besagten Artikel reagiert – mit Witz und Humor. Der letzte Satz lautet: „Wir können jetzt nicht weiter schreiben, wir müssen zum nächsten Apéro“. Könnte es sein, dass „Le Matin“ die verbitterten Polterer nicht ganz so ernst nimmt?
Jedenfalls sehen manche Romands das Leben weniger verkrampft und etwas lebensfreudiger als gewisse Autoren und Chefs eines gewissen Zürcher Nachrichtenmagazins.
Romands, restez comme vous êtes, on vous adore.
Aber eigentlich geht es ja gar nicht um die Romands. Es geht darum zu provozieren, Tabus zu brechen und à tout prix das Gegenteil zu behaupten. Recherchen sind da nur hinderlich. Die Wahrheit ist nebensächlich. Don’t check a story, it could kill it.
Vor einem Tabu seien die Tabu-Brecher bisher zurückgeschreckt, schreibt die NZZ süffisant. Die ultimative Cover-Story mit dem Titel „Weshalb Pädophilie gar nicht so schlimm ist“ sei uns noch erspart geblieben.