Anfang April erschien in Zürcher Tageszeitungen ein Offener Brief an den Papst, in dem dieser um tatkräftige Hilfe bei der Aufarbeitung des weltweiten Missbrauchskandals in der katholischen Kirche gebeten wird. Unterzeichnet ist das Schreiben von Generalvikar Josef Annen sowie der Präsidentin des Synodalrates Franziska Driessen-Reding. Von einem Flächenbrand ist in dem Brief die Rede, von sich häufenden Kirchenaustritten und von der „Häresie des Klerikalismus“, die laut Papst Franziskus am Ursprung der sexualisierten Gewalt in der Kirche und ihrer Vertuschung stehen soll.
„Dramatisch“ wie am Vorabend der Reformation nennen die Verfasser die Lage der Kirche und erinnern den Papst mit Nachdruck daran, „dass der sexuelle Missbrauch sich nicht auf die Vergehen fehlgeleiteter Einzelpersonen reduzieren lässt“, sondern „in den Strukturen der katholischen Kirche begründet“ ist. Vom Oberhaupt dieser Kirche erwarten sie deshalb nicht weniger, als dass er für einen lebensnahen Umgang mit Sexualität, für Gewaltentrennung und synodale Mitverantwortung sowie für Kreativität bei der Lösung der brennenden Probleme sorge. Und ganz nebenbei auch für einen dem synodalen System gewogenen neuen Bischof von Chur, wie am Ende des Schreibens ganz kurz noch vermerkt wird.
Rom ist Teil des Problems und nicht dessen Lösung
Inhaltlich kann man den von den obersten Verantwortlichen der Zürcher Kantonalkirche erhobenen Forderungen nur zustimmen. Bloss, kommen sie auch am richtigen Ort an? Und setzen sie gar einen Prozess in Gange, wie die Unterzeichnenden es sich erhoffen? Ich fürchte, nein. Ich fürchte, der Brief ging an die falsche Adresse. Denn Rom ist Teil des Problems und nicht dessen Lösung.
Wie sehr dies der Fall ist, haben die Auslassungen Benedikts XVI. mit erschreckender Deutlichkeit gezeigt, die Ende letzter Woche publik geworden sind. Ganz so, als hätte es noch eines Beweises für die Uneinsichtigkeit und Reformunfähigkeit der römischen Zentrale bedurft, liess der einstige Präfekt der Glaubenskongregation und zurückgetretene Papst im „Bayerischen Klerusblatt“ einen Aufsatz veröffentlichen, dessen Titel „Die Kirche und der Skandal des sexuellen Missbrauchs“ aufhorchen liess.
Ratzingers bodenlose Unverschämtheit
Doch wer eine Klärung der tragischen Angelegenheit erwartet hatte, sah sich nicht nur enttäuscht, sondern musste mit Erschrecken die bodenlose Unverschämtheit der darin zum Ausdruck gebrachten Thesen zur Kenntnis nehmen. Nicht die Täter, nicht die Strukturen und schon gar nicht die Kirche als solche sieht Ratzinger in der Verantwortung, sondern die moderne Gesellschaft. Dort sitzen seiner Meinung nach die wahren Schuldigen, als da sind: der Sexualkundeunterricht in den Schulen, die sexuelle Befreiung der 68er Generation sowie der Zusammenbruch der Moraltheologie, „der die Kirche wehrlos gegenüber den Vorgängen in der Gesellschaft machte“.
Nun könnte man über derlei Unsinn einfach den Kopf schütteln und zur Tagesordnung übergehen, wenn da nicht der Verdacht im Raum stünde, dass der Aufsatz mehr ist als der Erguss eines verbohrten alten Mannes, der die Welt nicht mehr versteht, nämlich ein mit dem amtierenden Papst abgesprochener Versuch, der weltweiten Kritik an der katholischen Kirche entgegenzutreten.
Dummdreist auf den Kopf gestellt
In der Tat weisen die Argumentationslinien der beiden Päpste eklatante Ähnlichkeiten auf. Beide versuchen sie Schuld von der Kirche zu nehmen, indem sie auf die sexuelle Gewalt in allen Bereichen der menschlichen Gesellschaft verweisen. Beide sehen sie im Missbrauchskandal ein Wirken des Teufels. Und für beide ist es letztlich die „Abwesenheit Gottes“, die der Verbreitung der Pädophilie in den eigenen Reihen Vorschub leistete. Eine Erklärung, warum gerade höchste geistliche Würdenträger besonders von dieser Abwesenheit Gottes betroffen sein sollten, bleiben sie beide schuldig.
Für all jene, die ihre, die katholische Kirche noch immer lieben und sich in ihr für sie engagieren, war bereits die wenig einsichtige Rede des amtierenden Papstes zum Abschluss des sogenannten Missbrauchgipfels eine herbe Enttäuschung gewesen. Nun setzt der emeritierte Papst noch eins drauf und macht die Hoffnung auf von Rom ausgehende Reformen vollends zunichte. Wer das Opfer-Täter-Schema derart dummdreist auf den Kopf stellt, wie Benedikt XVI. es soeben getan hat, ist zu Einsicht und Umkehr schlicht nicht fähig. Und so ist zu befürchten, dass auch der Appell der Zürcher Kantonalkirche ins Leere läuft und ebenso ungehört verhallt wie all die andern Offenen Briefe, die in letzter Zeit von überall her an den Papst gerichtet worden sind.
Noch ist der Name des neuen Churer Bischofs nicht bekannt, und so bleibt für die Zürcher und alle andern Katholiken der Diözese ein letztes Fünkchen Hoffnung übrig. Sollte auch dieses zum Erlöschen gebracht werden, sieht es düster aus im Hause des Herrn.