Eine ganze Generation ist in dieser Zeit herangewachsen, die allein den Namen Merkel mit der deutschen Regierungsspitze zu verbinden weiss. Damit hat sie aufgeschlossen zu ihrem christdemokratischen Vorgänger Helmut Kohl, der zuerst ihr nachhaltigster Förderer und Mentor war, den sie aber trotzdem 1999 vom Thron des CDU-Ehrenvorsitzeden stiess, weil er durch die Art seiner Verwicklung in eine Spenden-Affäre die gesamte Partei mit in den Abgrund zu ziehen drohte. Und sie bestimmte vier Jahre länger die Richtlinien der Politik als der inzwischen schon fast zur Legende erklärte „Gründungskanzler“ Konrad Adenauer.
Parallelen mit Kohl
Angela Merkel – nicht wenige nennen sie schon die „ewige Kanzlerin“. Natürlich reichen 16 Jahre nicht aus, um zur „Ewigkeit“ erklärt zu werden. Aber es ist lohnend, die Fotos der Frau, die 2005 mit nur knappem Vorsprung vor Gerhard Schröder die Ziellinie überquerte, mit denen von heute zu vergleichen. Denn sie geben ein Bild von dem Stress und den Strapazen wieder, die das politische Amt seinen Inhabern abverlangt – und wie sehr es sie verändert.
Wobei es im Fall Merkel/Kohl – Zufall oder Schicksal – auffallende Parallelen gibt. Sowohl der Mann aus der Pfalz als auch die 1954 in Hamburg geborene und später mit ihrer Familie in die ostdeutsche Uckermarck umgezogene Pfarrerstochter standen auch im hohen Staatsamt nie an der Spitze einer Beliebtheitsskala. Sie besassen auch nie so etwas wie einen Fan-Klub – und wurden dennoch ein ums andere Mal wiedergewählt.
Geradezu paradox: Helmut Kohl wie Angela Merkel sahen sich eigentlich Zeit ihrer politischen Karriere einer starken medialen Front gegenüber. Anders als viele andere Politiker fütterten diese beiden die Presseleute freilich kaum je mit journalistischen Appetithappen. Und sie liessen darüber hinaus auch kaum jemanden wirklich nahe an sich heran.
So blieb auch Angela Merkels Verhältnis zur sogenannten veröffentlichten Meinung immer – mal mehr, mal weniger – gespannt. Auf Seiten der „Zunft“ konnte man einerseits nicht umhin, dem kühlen und wachen analytischen Verstand der promovierten Physikerin Respekt zu zollen, andererseits fehlte den Beobachtern bei der Kanzlerin immer das, was sie gern als „Fleisch am Knochen“ bezeichnen.
Ohne jede Eitelkeit
Dafür punktete die (in der deutschen Geschichte erste) Chefin in der Berliner Regierungszentrale erkennbar bei den Bürgern draussen im Lande. Wenigstens bei der Mehrheit. Ganz anders als dem Medientross gefiel den Leuten offensichtlich gerade die zurückhaltende Art der Merkel’schen Auftritte.
Vor allem eine Wesensart stach bei ihr heraus: Diese Frau ist absolut nicht eitel. Wer aus dem Kreis der im Rampenlicht der Öffentlichkeit Stehenden kann schon so etwas von sich behaupten? Und vielleicht war es über die Jahre hin nicht zuletzt dieser Charakterzug, der auch auf der internationalen Bühne ihr Ansehen immer mehr steigen liess, bis ihr schliesslich sogar zeitweise das Prädikat „mächtigste Frau der Welt“ zuerkannt wurde.
Also draussen geachtet, aber in der Heimat geächtet? Das trifft in dieser Schärfe sicherlich nicht zu; ganz falsch ist es jedoch auch nicht. Wobei Kritik an ihr keineswegs nur (sozusagen der Profession geschuldet) von den Gegenspielern der parlamentarischen Opposition geübt wurde. Auch erhebliche Teile des so genannten intellektuellen Lebens kamen mit der spröden Art Merkels nur schwer oder überhaupt nicht zurecht.
Allerdings bietet, wer die Karriereleiter bis zu den höchsten Sprossen erklimmt, zwangsläufig seinen Widersachern Reibungsflächen. Und ja, auch offene Flanken. Wobei die Gefahren weniger bei jenen Eiferern lauern, deren Attacken auf die „ostdeutsch sozialisierte“ Kanzlerin sich schon seit Jahren geradezu überschlagen und nicht selten in regelrechte Hasstiraden münden.
Begonnen beim Demokratischen Aufbruch
Es sind die Querelen in und mit der eigenen Partei. Aber es ist nun einmal auch in der Demokratie so etwas wie ein politisches Naturgesetz, dass Machtwillen haben und zeigen muss, wer Macht besitzen und diese auch ausüben will. Schliesslich ist Macht als solche weder gut noch schlecht, sondern schlichtweg notwendig, um Entscheidungen zu treffen und Dinge voranzubringen. Das gilt nicht zuletzt auch für die Politik.
Logisch, dass es dabei Gewinner und Verlierer gibt, Verletzungen zugefügt werden und manch ein Kämpe am Wegesrand zurückbleibt. Als Angela Merkel erstmals politisch erkennbar wurde, war sie 35 Jahre alt, fungierte in den turbulenten „Wendemonaten“ 1989 als Stellvertretende Pressesprecherin zunächst der oppositionellen Organisation Demokratischer Aufbruch und später der ersten (und einzigen) frei gewählten DDR-Regierung unter Ministerpräsident Lothar de Maizière.
Es war Helmut Kohl, der mit als erster die politischen Qualitäten der sich damals noch immer ein wenig linkisch auf dem Bonner Parkett bewegenden jungen Frau erkannte. Anders als andere westdeutsche CDU-Granden, die Merkel nach der Wiedervereinigung mit irgendeinem Referat im Bundespresseamt abspeisen wollten, verfügte der Kanzler, dass ihr ein Kabinettssitz zustehe. Freilich nannte sie der „Kanzler der Einheit“ noch lange altväterlich-gönnerhaft „mein Mädchen“ – und merkte offenkundig nicht, wie gelehrig dieses Mädchen sich beim Alt- und Grossmeister des Umgangs mit der Macht anstellte.
Nachfolge nicht geregelt
Man hat Angela Merkel immer wieder vorgeworfen (nicht selten geradezu beschuldigt), sich ihrer innerparteilichen Widersacher kaltblütig entledigt, sie um der eigenen Machterhaltung wegen einfach „weggebissen“ zu haben. Richtig daran ist, dass auch sie es versäumt hat, rechtzeitig ihre Nachfolge einzuleiten. Als sie das schliesslich an der CDU-Spitze mit der früheren saarländischen Ministerpräsidentin Annegret Kramp-Karrenbauer nachzuholen versuchte, war es zu spät und endete auch politisch ziemlich kläglich.
Ansonsten ist die Behauptung vom „Wegbeissen“ sämtlicher Nebenbuhler und Kritiker eine Mär, die aber natürlich von den Genannten gern am Leben gehalten wird. Und sei es aus Gründen des Selbstwertgefühls. Beispielsweise von den Mitgliedern des einstigen, geheimnisvollen und durchaus einflussreichen „Andenpakts“, die sich noch als „Junge Unionisten“ nach dem Motto „Einer für alle, alle für Einen“ gegenseitig geschworen hatten, dass ein künftiger CDU-Bundeskanzler nur aus diesem Kreis kommen dürfe.
Die Geschichte ist schnell erzählt: Tatschlich machten etliche aus dieser Polit-Loge ordentlich Karriere und wurden etwa Ministerpräsidenten. Zum Beispiel Christian Wulff (Niedersachsen), Günter Oettinger (Baden-Württemberg) oder Roland Koch (Hessen). Wer jedoch ihren (und ihrer Freunde) Werdegang verfolgt, wird rasch herausfinden, dass sie sämtlich über eigene Fehler und damit über sich selbst gestolpert sind.
Allerdings gehen andere, durchaus gravierende personelle Patzer, auf das Konto der Kanzlerin. Allen voran die von ihr vorgenommene – oder zumindest unterstützte – Auswahl der Bundespräsidenten Horst Köhler und Christian Wulff. Beide erwiesen sich, aus unterschiedlichen Gründen, relativ rasch als Fehlbesetzungen.
Die CDU geöffnet oder verraten?
Angela Merkel kann nicht nur auf 16 Jahre Kanzlerschaft zurückblicken, sondern (2000–2018) auch auf 18 Jahre, in denen sie – als Nachfolgerin von Helmut Kohl – an der Spitze der CDU stand. Das Zeugnis, das ihr dafür (selbst von wohlwollenden) Zeitgenossen ausgestellt wird, ist deutlich zwiegespalten.
Merkels unerschütterliche Anhänger halten ihr zugute, unter ihrer Führung sei die Partei liberaler und offener geworden für die Veränderungen in der Gesellschaft. Als Beispiel wird hier zumeist die Gesetzgebung zugunsten gleichgeschlechtlicher Lebensgemeinschaften und Ehen herangeführt. Kritiker hingegen werfen ihr – mitunter durchaus vehement – vor, die CDU wesentlicher konservativer Elemente beraubt zu haben. Merkel habe die Christdemokraten quasi „sozialdemokratisiert“ und damit verraten.
In diesem Kontext wiegen für viele CDU-Mitlieder und -Anhänger (neben zahlreichen wirtschafts-, finanz- und sozialpolitischen Aspekten) vor allem zwei von Merkel zu verantwortende Entscheidungen besonders schwer: die Aussetzung der allgemeinen Wehrpflicht (und damit auch des Zivildienstes) am 1. Juli 2011 sowie die unter dem Eindruck der Atommeiler-Katastrophe im japanischen Fukushima abrupt beschlossene und daher als überstürzt empfundene Abkehr von dem erst kurz zuvor vereinbarten Energiemix aus Atomkraft, Kohle und Gas sowie erneuerbaren Energien.
In den Augen des CDU-Wirtschaftsflügels und des besonders konservativen Teils der Partei wurden hier geradezu Todsünden verübt am konservativen Glaubensgerüst. Solche – auch ernst zu nehmende – Proteststimmen wurden im Berliner Kanzleramt tatsächlich lange Zeit bewusst überhört oder als „gestrig“ abgetan. Mit der Folge, dass zahlreiche Menschen der Partei enttäuscht den Rücken kehrten und etliche sogar in die rechtsflügelige Alternative für Deutschland (AfD) wechselten.
Ein „halsbrecherisches“ Versprechen
In Tat und Wahrheit freilich wurden Merkel und ihre 16 Jahre währende Amtszeit in allererster Linie von der Aussenpolitik bestimmt. Präzise gesagt: von Krisen. Noch genauer: von den Beben, welche die Welt erschütterten. Zum Beispiel die globale Finanzkrise 2008, ausgelöst durch die Insolvenzen vor allem grosser amerikanischer Banken. Mit dem halsbrecherischen Akt einer Staatsgarantie für private Spareinlagen bewahrten Angela Merkel und ihr seinerzeitiger SPD-Finanzminister Peer Steinbrück die deutschen Geldinstitute vor panischen Anstürmen der Sparer.
Oder die mit diesen Vorgängen eng verbundene Euro-Krise, als die überbordende griechische (und keineswegs nur diese) Schuldenpolitik das europäische Währungssystem an den Rand des Zusammenbruchs brachte. Die Schmähungen, die seinerzeit aus Griechenland, Polen und anderen EU-Ländern medial aber auch von verantwortlichen Politikern wegen der deutschen Sparpolitik über der Kanzlerin ausgeschüttet wurden, überschritten mehr als nur einmal deutlich die Grenzen der zivilisierten Sprache.
Hat die Frau Nerven wie Stahlseile oder eine Elefantenhaut? Als der damalige bayerische Ministerpräsident und CSU-Vorsitzende Horst Seehofer die Kanzlerin auf dem CSU-Parteitag wegen der von ihr verantworteten Migrations- und Asylpolitik vor versammelter Mannschaft abkanzelte, liessen nur ihre versteinerte Miene und ein gelegentliches Zucken der Augenbraue erkennen, dass die Standpauke sie überhaupt erreichte. Ihre Zuwanderungspolitik jedenfalls änderte sie nicht. Das allerdings wird ihr noch heute nachgetragen. Und zwar nicht nur von ausgewiesenen „Rechten“. Das Wort von der „gespaltenen Gesellschaft“, die sie nun hinterlasse, mag übertrieben sein, ganz falsch ist es nicht.
Stoische Ruhe in aufgeheizter Runde
Es war (und ist) diese Fähigkeit, selbst (und gerade) in hitzigen Streitigkeiten stoische Ruhe zu bewahren, die sie immer wieder in den Stand setzten, auch in schweren Krisen zu vermitteln. Donald Trump konnte sie – erkennbar – nicht beeindrucken. Selbst Wladimir Putins fieser Versuch, seinen Labrador an Merkels Knien herumschnüffeln zu lassen (weil er wusste, dass die Besucherin sich vor Hunden fürchtet), hat nichts gefruchtet. Allerdings ist das gestörte Verhältnis zwischen Berlin und Moskau, trotz Merkels Festhalten an der stark kritisierten Gas-Pipelinie Nordstream 2, auch bis heute nicht besser geworden.
Was bleibt nach 16 Jahren Angela Merkel? Es ist gewiss nicht ihre Schuld – aber das erbärmliche Scheitern des westlichen Militär- und Zivilengagements nach 20 Jahren in Afghanistan wird auch an ihrem Image eine Narbe hinterlassen.
Es ist ohne jeden Zweifel auch ihrem nimmermüden Einsatz zu verdanken, dass die von Krisen geschüttelte Europäische Union (EU) – vor allem nach dem Austritt Grossbritanniens – und trotz mancherorts wiedererstehender Nationalismen noch existiert und nicht auseinanderbrach. Natürlich weiss Merkel um die herausragende Bedeutung Deutschlands und Frankreichs in und für Europa. Aber dennoch hat sie die von Emanuel Macron ausgestreckte Hand nur zögerlich ergriffen, um gemeinsam der EU einen neuen „Ruck“ zu geben.
Trotz alledem. Vor wenigen Tagen sagte ausgerechnet Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) einen Satz, der wahrscheinlich von vielen Menschen unterschrieben würde – egal, ob politisch aktiv oder nicht und gleichgültig, ob diesseits oder jenseits der deutschen Grenzen: „Sie wird uns fehlen“.