Nein zu sagen ist für Regierende der wohlhabenden Staaten in Europa sehr schwierig. Das zeigte sich in drastischer Weise am Gipfel der 47 Länder der «Europäischen politischen Gemeinschaft» in der Moldau-Haupstadt Chisinau. Auch die Schweiz war dabei.
Klar, dass die Politikerinnen und Politiker dem aus Kiew persönlich angereisten Präsidenten Selenskyj nichts von dem, was er für den Abwehrkampf gegen den russischen Aggressor erbat oder forderte, grundsätzlich verweigern wollten. Man nähert sich spürbar dem Punkt, da Kiew, nach Defensivwaffen und begrenzt offensiv einsetzbaren Kampfpanzern auch Jets vom Typ F-16 erhalten wird.
Grenzen der Aufnahmefähigkeit
Ob die Ukraine sich dann auch daran halten wird, diese Waffen lediglich zur Verteidigung des eigenen Territoriums einzusetzen oder allenfalls auch über die Grenzen zu Russland hinaus – die westlichen Kontinental-Europäer wollen bremsen, die US-Amerikaner äussern sich zwiespältig, die Briten befürworten offensivere Einsätze, die Regierungen im zentral-östlichen Europa wollen den Ukrainern freie Hand lassen –, wird mehr und mehr zu einem Nebenaspekt. Die nächste Stufe der Eskalation steht auf jeden Fall bevor.
Aber nicht nur die Ukraine fordert, das tun auch andere. Vor allem das Gastland, Moldau oder, wie der Staat in bestimmten Ländern auch genannt wird, Moldawien. Klar, dass rund um die Gipfelgespräche in Chisinau verschiedene europäische Politikerinnen/Politiker der Gastgeberin versprachen, in Zukunft (noch) mehr zu tun, um die mehrheitlich armen Bewohner der seit 1991 unabhängigen Republik (2,6 Millionen Menschen) in eine relativ stabile Zukunft zu geleiten. Und auch, dass die EU der Regierung von Moldau versprochen hat, die Gespräche über einen EU-Beitritt zu intensivieren (Moldau ist einer von acht Beitrittskandidaten, daneben gibt es noch die «Bewerber», nämlich Georgien und Kosovo), ist nachvollziehbar. Aber irgendwann müssen die in der Europäischen Union tonangebenden Persönlichkeiten und Gremien wohl auch erkennen – und das offen kommunizieren – , wo ihre eigenen Grenzen liegen. Grenzen hinsichtlich finanzieller Unterstützung und auch der Bereitschaft zu Verpflichtungen.
Ungelöste Probleme
Schon die Ost-Erweiterungen brachten die Gemeinschaft phasenweise ans Limit der Belastbarkeit – noch etwas weniger jene im Jahr 2004 (Baltische Länder, Malta, Polen, Slowakei, Slowenien, Tschechische Republik und Zypern), auch nicht die Aufnahme Kroatiens im Jahr 2013, wohl aber jene von 2007, als Bulgarien und Rumänien Mitglieder wurden. An diversen Problemen rund um diese Erweiterungen nagt die EU noch immer. Es geht vor allem um Korruption und Rechtssicherheit.
Auch Moldau wäre in diesen Bereichen wohl noch für sehr lange Zeit ein Problempartner – das Land rangiert bei der Korruption auf Platz 115 von 180, ist damit immerhin besser als die Ukraine, die ja ebenfalls den Status eines Beitrittskandidaten hat. Aber die generelle wirtschaftliche Situation Moldaus ist noch weit entfernt von dem, was die Europäische Union mit ihrer auf Konkurrenzfähigkeit ausgerichteten Wirtschaftspolitik erwartet. Was konkret heisst, dass das Land noch auf Jahrzehnte hinaus von Zuschüssen und auch Schutzmassnahmen abhängig bleiben würde.
Goodwill statt Substanz
Gewiss, man sollte das Thema nicht mit einem nur auf das Ökonomische verengten Blick beurteilen – es gibt politische Argumente für eine zeitnahe Einbindung Moldaus in den europäischen Verband. Vor allem die Bedrohung durch Putins Russland. Dieser «Kaltfront» allerdings kann oder könnte wirksam nicht die Europäische Union, sondern nur die Nato entgegentreten – und ob sie sich an der bevorstehenden Gipfelkonferenz durchringen wird, dem geografisch exponierten Land eine Perspektive anzubieten, ist mehr als ungewiss. Was in der Essenz bedeutet, dass am 47-Länder-Gipfel in Chisinau viel an Goodwill geäussert wurde, aber die von der Gastgeberin erwartete Substanz, die lässt auf sich warten.
Und viel Zeit wird auch noch vergehen, bis die Europäische Union vorwärts macht mit den Beitrittsgesprächen mit den Ländern des so genannten West-Balkans. Albanien, Bosnien-Herzegowina, Montenegro und Nordmazedonien: Sie alle sind ökonomisch sehr weit entfernt von auch nur ansatzweiser Konkurrenzfähigkeit mit dem übrigen Europa – und Serbien, ein weiterer Kandidat, befindet sich zwar nicht wirtschaftlich, dafür aber politisch in einer Entfernung von Lichtjahren gegenüber den so genannten Brüsseler Standards.
Emmanuel Macron versuchte, all das beim Gipfel in der Hauptstadt Moldaus beiseite zu wischen – man müsse vorwärts schreiten, beschwor er die anderen EU-Mitglieder. Das sind Worte, und sie lassen sich medial gut verwerten. Aber die Fakten deuten in eine andere Richtung. Nämlich: Europa muss die Grenzen seiner Möglichkeiten erkennen. Und, wie erwähnt, sie auch offen kommunizieren.