Früher fuhren die Minister mit schweren Limousinen, Blaulicht und bewacht von einer Schar Bodyguards vor den Regierungspalästen vor. Diesmal nicht. Die designierten Kabinettsmitglieder spazierten zu Fuss in den Quirinal-Palast, dem Sitz des Staatspräsidenten – oder sie kamen per Taxi oder dem eigenen Auto.
Das sollte Symbolcharakter haben. Die neue Regierung will ein Zeichen setzen und zeigen, dass sie dem aufgeblähten und ineffizienten italienischen Politbetrieb auf den Leib rücken will.
Doch dann, während die Minister von Staatspräsident Giorgio Napolitano vereidigt wurden, verbreite sich die Kunde einer Schiesserei vor dem Palazzo Chigi, dem etwa ein Kilometer entfernten Sitz des Ministerpräsidenten. Der 46-jährige Kalabrese Luigi P. gab sieben oder acht Schüsse auf Polizisten ab. Zwei wurden verletzt, ebenso eine schwangere Frau. Der Täter konnte verletzt festgenommen werden.
Die Kunde, sorgte während der Vereidigung für Nervosität und Aufregung. Einige Journalisten verliessen die Zeremonie und eilten vor den Palazzo Chigi. Der Zwischenfall wurde als Warnung an die Minister aufgenommen. So sympathisch ein freies Herumspazieren ist, so gefährlich ist es auch.
Die Ministerin aus dem Kongo
Die am Sonntag vereidigte Regierung zählt 14 Männer und sieben Frauen. Zum ersten Mal hat Italien eine afrikanisch-stämmige Ministerin. Cécile Kyenge, die neue Integrationsministerin, stammt aus dem Kongo. Die 48-jährige Ärztin lebt in Modena in der Emilia Romagna. Sie ist verheiratet und Mutter zweier Töchter. Sie war es, die im März 2010 eine Streik-Aktion der Ausländer in Italien initiiert hat. Der Slogan hiess: "Ein Tage ohne uns, und Italien macht den Laden dicht".
Die Ernennung von Cécile Kyenge hat in einem Land, das nicht frei von rassistischen Tendenzen ist, Symbolcharakter. Auf Facebook hat sie zahlreich rassistisch motivierte Todesdrohungen erhalten. Cécile Kyenge gehört dem sozialdemokratischen "Partito Democratico" an, war als Studentin nach Rom gekommen und arbeitet seit zehn Jahren im Spital von Modena.
Schon hat sich die fremdenkritische "Lega Nord" gemeldet. Cécile Kyenge sei "keine Italienerin".
Eine neue Generation
Berücksichtigt wurden in der neuen Regierung die drei grossen politischen Strömungen: Neun Minister gehören dem Linkslager an, fünf der Berlusconi-Allianz und drei der bürgerlichen Mittepartei. Vier Minister, unter ihnen der wichtige Wirtschaftsminister, sind Technokraten.
Italiens neue Regierung entstammt grösstenteils einer neuen Generation. Die Urgesteine der italienischen Politik sind abgelöst worden: Berlusconi ist nicht mehr dabei, ebenso wenig Amato, D’Alema und Prodi. Auch der bisherige Ministerpräsident Mario Monti erhielt kein Ministeramt, ebenso wenig der 38-jährige Bürgermeister von Florenz, Matteo Renzi.
Keine Kabinettsposten gingen an die linken und rechten Falken, die Scharfmacher und ewigen Polemiker. Das gibt zur Hoffnung Anlass, dass sich die Regierung konzentriert um Sachthemen kümmern kann. Die unerträglichen Shows mediensüchtiger Politiker könnten in den Hintergrund rücken.
Anderseits führt die mangelnde Erfahrung mancher Minister dazu, dass einige Beobachter schon von einer schwachen Regierung sprechen. Die stärksten Figuren seien die vier Technokraten.
Die erste Grosse Koalition
Zum ersten Mal seit 1947 hat Italien eine Regierung, in der sich die Linke und die Rechte die Macht teilen. Zwar wirkten in früheren Regierungen immer wieder Persönlichkeiten anderer Lager mit. Doch eine eigentliche Machtteilung war das nicht.
1973 schloss die damals starke italienische Kommunistische Partei (PCI) mit der bürgerlich-katholischen Democrazia Cristiana (DC) den berühmt gewordenen „Historischen Kompromiss“. Doch der führte nur dazu, dass die Kommunisten die DC-Regierung duldeten und nicht an ihr beteiligt waren.
Die jetzige Regierung wird zwar vom linken Enrico Letta geleitet. Doch sein rechter Stellvertreter, Angelino Alfano, kann als ebenso mächtig bezeichnet werden. Hinter ihm steht Berlusconi, der jederzeit die Regierung stürzen könnte.
Angelino Alfano erhielt neben dem Amt des stellvertretenden Ministerpräsidenten auch jenes des Innenministers.
Das wichtige Wirtschaftsministerium übernimmt der 70-jährige Technokrat Fabrizio Saccomanni. Er gilt als unabhängig und ist seit 2006 Generaldirektor der italienischen Zentralbank, der Banca d’Italia.
Aussenministerin Bonino
Aussenministerin wird die 65-jährige Ex-EU-Kommissarin Emma Bonino, eine profilierte Vertreterin der Linken. Sie kämpft gegen Genitalverstümmelung, für die Rechte der Tibeter und der afghanischen Frauen. Sie galt als Geburtshelferin des UNO-Kriegsverbrechertribunals für das ehemalige Jugoslawien. Sie ist eine überzeugte Gegnerin der Todesstrafe. In New York war sie 1992 verhaftet worden, als sie Fixern sterile Spritzen verteilte. In der zweiten Regierung vom Romano Prodi war sie Europa- und Handelsministerin.
Justizministerin bleibt die 70-jährige Anna Maria Cancellieri. Sie bekleidete dieses Amt schon in der Regierung des jetzt abtretenden Ministerpräsidenten Mario Monti.
Kulturminister wird der 54-jährige Massimo Bray. Er gehört dem linken Partito Democratico an und war bisher Direktor des geschichtsträchtigen, 1925 von Giovanni Treccani gegründeten "Istituto della Enciclopedia Italiana".
Das Kabinett Letta sei „neu, frisch und kompetent“, kommentierte Staatspräsident Napolitano, der – nach turbulenten Tagen – am Samstag vor einer Woche erneut ins höchste Amt des Staates gewählt wurde.
Hoher Erwartungsdruck
Das Kabinett muss sich jetzt in beiden italienischen Kammern der Vertrauensabstimmung stellen. Das wird in den nächsten Tagen geschehen. Da alle drei wichtigen Strömungen in der Regierung vertreten sind, gibt es keinen Zweifel, dass das Parlament der Regierung Letta das Vertrauen ausspricht.
Das Kabinett steht unter einem hohen Erwartungsdruck. Italien geht es wirtschaftlich schlecht. Die Arbeitslosenzahlen, vor allem jene der Jungen, steigen dramatisch. Die Regierung muss schnell konkrete Erfolge vorweisen.
Vor allem muss sie auch die verkrusteten politischen Institutionen reformieren. Dringend benötigt wird ein neues Wahlgesetz, das Patt-Situationen, wie sie nach den Wahlen vom 25. Februar eintraten, verunmöglichen.
Was geschieht mit der Steuer auf Eigenheimen?
Interessant ist, was mit der Steuer auf Eigenheimen geschehen wird. Berlusconi hat in den letzten Monaten vehement für eine Abschaffung der von Mario Monti wieder eingeführten Steuer gekämpft. Die Italiener sind kein Volk von Mietern. 82 Prozent besitzen ein Haus, einen Hausteil oder eine Wohnung. Die neue Steuer auf Eigenheimen belastet vor allem den Mittelstand und ärmere Schichten schwer. Hat Berlusconi die Beteiligung an der Regierung davon abhängig gemacht, dass diese Steuer, Imu genannt, annulliert wird? Wenn nicht, verliert er im Land an Ansehen.
Berlusconi selbst erklärte seit Tagen, er habe keine Absicht, in die neue Regierung einzutreten. In einem Interview mit dem amerikanischen Fernsehsender Fox erklärte er: „Ich werde nie mehr Ministerpräsident“. Berlusconi hat sich schon oft selbst korrigiert. Vorerst wird er sicher aus dem Hintergrund die Fäden ziehen.
Der Artikel baut auf dem am Vortag veröffentlichten Bericht Grosse Koaltion für sehr grosse Probleme auf