Die Taliban haben in der Nacht auf den Montag die Provinzhauptstadt Kunduz im Norden des Landes überraschend erstürmt und besetzt. Kunduz war seit langer Zeit gefährdet. Die Taliban waren im vergangenen April und erneut im September in die Stadt eingedrungen, aber zurückgeschlagen worden.
Aussenliegende Distrikte der Provinz Kunduz hielten sie schon seit über zwei Jahren besetzt. Die afghanischen Sicherheitsleute sagen im Nachhinein, die Taliban hätten die Stadt am Ende des Ramadan infiltriert. Entsprechend lancierten sie am Montag einen überraschenden Angriff in den letzten Stunden der Nacht, der von drei Seiten her gleichzeitig vorgetragen wurde. Sie griffen die Polizeistationen an, von denen mehrere Dutzend rund um das Stadtzentrum herum verteilt waren, und scheinen die dortigen Polizisten - jeweils zwischen 12 und 20 Mann pro Posten – im Schlaf überrascht zu haben.
Die Armee wich aus auf den Flughafen
Kunduz besass auch eine Armeegarnison, dem Vernehmen nach zahlenmässig grösser als die angreifenden Kämpfer. Doch auch sie wurde offensichtlich überrascht und überrannt. Die Taliban eroberten das Gefängnis und befreiten dort einsitzende Komplizen. Zudem nahmen sie den Hauptsitz der Sicherheit und scheinen auch Waffen der regulären Armee erbeutet zu haben, darunter Panzer.
Die Armee zog sich in Richtung Flughafen zurück. Die Taliban versuchten, auch den Flughafen zu erobern, doch - wie ihre eigenen Führer erklärten - misslang ihnen dies. Kämpfe auf dem Flughafen, um ihn herum und auf der Zufahrtsstrasse zwischen Flughafen und Stadt spielten sich am Montag und am Dienstag ab. Die amerikanische Luftwaffe kam der afghanischen Armee zur Hilfe. Im offenen Gelände ausserhalb der Stadt war dies möglich. Innerhalb der Stadt jedoch wären Luftangriffe für die Bevölkerung zu gefährlich.
Armeeverstärkungen blockiert
Die Armee- und Regierungsvertreter in Kabul erklärten zuerst, die afghanische Armee werde Verstärkungen nach Kunduz bringen und die Stadt "zurückerobern". Doch im Verlauf des Mittwochs wurde klar, dass die afghanischen Soldaten in den Nachbarprovinzen auf Hindernisse stiessen, die von den lokalen Taliban ihrer Regionen vorbereitet worden waren: verminte Strassen, Hinterhalte und armietre Strassensperren, die ihren Zugang nach Kunduz aufhielten. Dies gilt insbesondere für die Strassenverbindung zwischen Kunduz und Baghlan, der nächsten Provinzhauptstadt südlich von Kunduz. Die dortigen Strassen befinden sich offenbar unter Kontrolle der Taliban.
Nothilfe der Nato-Sondertruppen
Am Donnerstag wurde bekannt gegeben, dass spezielle Einheiten der Nato auf den Flughafen von Kunduz eingeflogen wurden, um den dortigen afghanischen Truppen, deren "Ermüdung" gemeldet worden war, zu Hilfe zu kommen. Dies sind Soldaten aus den USA, aus Frankreich, England und Deutschland, die nach dem Abzug der Hauptmacht der Natotruppen in vergangenen Januar "für Notfälle" in Afghanistan zurückgeblieben waren. Ihre erste Aufgabe dürfte es sein, den Flughafen abzusichern. Ob und wie weit sie dann eine afghanische Gegenaktion zur Wiedereroberung der verlorenen Stadt unterstützen werden, ist abzuwarten.
Bleiben die Taliban in der Stadt?
Ob und wie rasch es gelingen wird, die Taliban aus Kunduz zu vertreiben, ist derzeit ungewiss. Kunduz ist die erste grössere Provinzhauptstadt, die die Taliban seit ihrer Vertreibung aus Afghanistan von Ende 2001 zu erobern vermochten. Selbst wenn sie schon bald wieder aus Kunduz zurückgeschlagen würden, zeigt ihre Aktion, dass sie in der Lage sind, Angriffe im grossen Stil vorzubereiten, zu koordinieren und durchzuführen. Sie haben nicht nur die Stadt von rund 300´000 Einwohnern und ihre Sicherheitskräfte und Militärgarnison überrumpelt, sondern gleichzeitig auch dafür gesorgt, dass die Verstärkungen für die afghanische Armee aus den umliegenden Provinzen verlangsamt oder weitgehend verhindert wurden.
Zweifel an der Kampfkraft der Armee
Umgekehrt hat sich die von den Alliierten ausgebildete afghanische Armee als nicht in der Lage erwiesen, auf siech gestellt die Taliban abzuwehren. Dass sie dies könne, war in den vergangenen Monaten von ihren amerikanischen Ausbildnern und finanziellen Gönnern immer wieder behauptet worden.
Die Ausrüstung und Ausbildung dieser Armee soll über die letzten Jahre 64 Milliarden Dollar gekostet haben. Neben den optimistischen und zweckoptimistischen Einschätzungen der Kampfkraft der neuen Nationalen Afghanischen Streitkräfte hatte es immer auch skeptische Stimmen gegeben. Sie hoben hervor, dass das die Soldaten, aus denen die neu ausgehobene und ausgebildete Nationale Armee weitgehend bestand, nicht die beste seien: sehr viele Analphabeten, Drogensüchtige, eine hohe Zahl von Fahnenflüchtigen und sogar eine Tendenz unter einigen von ihnen, auf ihre amerikanischen und anderen fremden Ausbilder das Feuer zu eröffnen.
Der Eindruck bestand, dass nur solche Personen in Afghanistan sich als Soldaten der Regierungsarmee zur Verfügung stellen, die keine anderen Lebensperspektiven für sich ausmachen konnten. Diese negativen Einschätzungen scheinen sich nun in Kunduz zu bewahrheiten.
Die Taliban trotz interner Probleme stark
Umgekehrt hatte es viele Spekulationen darüber gegeben, dass die Taliban gespalten seien. Nach der Bekanntgabe des Todes von Mullah Muhammed Omar, des Gründers und "Emirs" der Taliban am vergangenen 29. Juli - ganze zwei Jahre nachdem er in einem pakistanischen Spital verschieden war, hatte es in der Tat Streit unter den Taliban gegeben. Die Nachfolge übernahm Mullah Achtar Mansour, der schon seit geraumer Zeit für den "abwesenden" Mullah Omar gesprochen und in seinem Namen regiert hatte. Doch Teile der Familie des verstorbenen Talibangründers, angeführt durch seinen Sohn, Mohammed Jaqoob, begehrten gegen ihn auf und erklärten, er habe die Nachfolge ohne die Zustimmung der führenden Kommandanten der Taliban an sich gerissen. Ausserem entwickelte sich eine Konkurrenz zwischen der Bewegung der Taliban, die sich als zur Al-Kaida Zawahiris zugehörig erklärten, und einer neuen Ausrichtung gewisser Anführer, die sich mit ihren Gefolgsleuten dem "Islamischen Staat" unterstellen wollten.
Diese Abspaltungen hatten bei manchen Beobachtern Anlass zur Vermutung gegeben, dass die Kampfkraft der Taliban abnehmen könnte. Die Talibanführung unter Mullah Achtar Mansur gab bekannt, eine der Absichten hinter dem Sturm auf Kunduz sei, die Gerüchte, dass die Taliban durch Spaltungen geschwächt seien, zum Schweigen zu bringen.