Ein Kühlschrank ist nicht nur ein Apparat, um Bier kaltzustellen, er ist auch ein philosophischer Apparat. Das heisst, es kann sein, dass Sie, in einem Moment freudiger Suspension zwischen Schliessen des Kühlschranks und Öffnen der Flasche, vor dem Apparat stehen bleiben und in ein Grübeln verfallen, das dem philosophischen Geisteszustand durchaus ähnelt: Was macht es aus, dass dieser Kühlschrank funktioniert? Was sind seine wesentlichen Bestandteile? Was unterscheidet ihn von anderen Apparaten?
Mit solchen Fragen würden Sie sich im 14. Jahrhundert in guter philosophischer Gesellschaft befunden haben. Der berühmte Scholastiker Johannes Duns Scotus hätte – selbst wenn ihm der Kühlschrank vielleicht etwas exotisch erschienen wäre – gefragt: Was ist die Quidditas – die „Washeit“ – dieses Geräts?
Nicht genug. Lassen Sie dem Grübeln, einmal in Fahrt gekommen, freien Lauf. Und der führt Sie womöglich zu einer weiteren Frage: Dieser Kühlschrank unterscheidet sich von anderen Kühlschränken nicht nur dadurch, dass er von der Firma X und nicht von der Firma Y stammt, ein anderes Design, eine andere Kühlflüssigkeit und eine andere Leistungszahl hat. Er unterscheidet sich auch dadurch, dass er gerade dieser Kühlschrank da ist, mit seinen ganz besonderen Merkmalen, Schrammen und Macken, der Kühlschrank, der mich zwanzig Jahre meines Lebens begleitet hat. Was macht ihn zu diesem einzigartigen Apparat? Duns Scotus hätte gefragt: Was ist die Haecceitas – die „Diesheit“ – des Kühlschranks?
„Den“ Kühlschrank gibt es nicht
Ich habe absichtlich ein technisches Objekt als Ausgangspunkt meiner kleinen Meditation gewählt, weil wir gewöhnlich solche Objekte als Inbegriff des Reproduzierbaren und Identischen betrachten. Gerade aus diesem Grund mutet die Frage nach der Haecceitas ziemlich grotesk an.
Doch halt, was sage ich da! – Gibt es nicht den Liebhaber spezieller Kühlschränke, den Sammler alter oder ausgefallener Einzelstücke, den Aficionado des Einzigartigen. Spinner, Snob, Freak vielleicht. Jedenfalls gilt für solche Leute der Satz: „Den“ Kühlschrank gibt es nicht, es gibt nur individuelle Einzelstücke: diesen Kühlschrank da, und diesen dort und jenen dort. Die Diesheit adelt das Einzelne, den Einzelnen.
Walter Benjamin hat in seinem berühmten Essay über das „Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ von der Aura gesprochen, die das Einzartige eines Objekts ausmache, handle es sich nun um ein künstlerisches oder natürliches, um ein Gemälde oder eine Landschaft, oder auch um einen Wein – die Haecceitas eines Château d’Yquem 1921: Quel discours!
Auratisierung der Technik
Schnell verrät die Rede von der Einzigartigkeit einen blasierten Einschlag. Aber warum soll denn nicht auch ein technisch reproduziertes Stück eine Aura haben? Tatsächlich geht der Trend im Design in diese Richtung: Auratisierung des Geräts. Wohl am radikalsten hat sie Apple vorangetrieben. Steve Jobs’ Werbekonzept des iMac suggerierte ja gerade, dass Computer nicht einfach „identische“ Maschinen sind, sondern „Individuen“, Einzelstücke mit Aura, Devotionalien des Digitalzeitalters.
Das war und ist der Trick technoreligiöser Verehrung, mit dem der Konsument gebannt und gelinkt werden kann. Natürlich braucht man nur einen Blick in Foxconns chinesische Massenproduktionsstätten zu werfen, um schnell zu merken, dass es sich um faulen Zauber handelt. In der gegenwärtigen Konsumwelt wird das Einzigartige nun selbst zum Serienprodukt, um das sich die einschlägigen Tech-Unternehmen eine unbarmherzige Schlacht liefern.
Ein einzigartiges Parfüm
Wir leben in einer Zeit, da uns jede Ware entgegenschreit: Ich bin einzigartig! Diese Einzigartigkeit aber ist Ergebnis eines zunehmend raffinierteren Marketings, das uns direkt bei unseren unterschwelligen Wünschen packt. Neulich entdeckte ich die Werbung eines offenbar in scholastischer Tradition bewanderten Parfümeurs in Florenz, der eine Kreation mit dem koketten Namen „Haecceitas“ anpreist; mit Kopfnote Freesie und Orangenblüte, Herznote Iris und Marshmallow, Basisnote Vanille, Moos und Chypre.
Ob dieses aromatische Porträt die Hacceitas des Parfums trifft, ist fraglich; ich habe es jedenfalls bestellt und ich muss sagen: Die Duftnote hat etwas Einzigartiges. Wie jede Duftnote. Wie alles, was in der Warenwelt angeboten wird. Wie alles, was in der Welt existiert. Und hier laufen wir nun unversehens philosophisch auf Grund. Was heisst: Alles ist einzigartig? Wir brauchen nicht ins Mittelalter zurückzuschauen. Eine Tradition des Denkens aus dem 19. Jahrhundert liefert uns den geeigneten Anhaltspunkt, im besonderen ein Philosoph: Friedrich Nietzsche.
Nietzsches „Urerlebnis“
Nietzsche schreibt in seiner einflussreichen Schrift „Über Lüge und Wahrheit in aussermoralischem Sinn“(1873): „(Unser) Gegensatz von Individuum und Gattung ist anthropomorphisch und entstammt nicht dem Wesen der Dinge (...) Denken wir besonders noch an die Bildung der Begriffe: Jedes Wort wird sofort dadurch Begriff, dass es eben nicht für das einmalige ganz und gar individualisierte Urerlebnis, dem es sein Entstehen verdankt, (...) dienen soll, sondern zugleich für zahllose, mehr oder weniger ähnliche, also auf lauter ungleiche Fälle passen muss. Jeder Begriff entsteht durch Gleichsetzen des Nicht-Gleichen. So gewiss nie ein Blatt einem andern ganz gleich ist, so gewiss ist der Begriff Blatt durch beliebiges Fallenlassen dieser individuellen Verschiedenheiten (gebildet).“
Aus solchen Worten spricht eine tiefe Sprachskepsis – was bei Nietzsche umso paradoxer anmutet, als er einer der grossen Meister deutscher Sprache ist. Aber er spricht der Sprache eine erkenntnistheoretische Funktion ab: Sie eignet sich nicht für das „Urerlebnis“, die Erfahrung des Individuellen, Einzigartigen. „Individuum est ineffabile“ – das Individuelle ist unfassbar. Das liegt nicht so sehr am Objekt selbst als an unserer Einstellung zu ihm. Wir lassen unsere Aufmerksamkeit für seine Einzigartigkeit schnell fallen. In diesem Sinn ist nichts und alles einzigartig.
Passive und aktive Aufmerksamkeit
Es geht, kurz gesagt, primär nicht um Sprache, sondern um den Sprung von einer passiven zu einer aktiven Einstellung zur Welt; vom ständigen Switchen der Aufmerksamkeiten zum ruhigen langzeitlichen Halten einer Aufmerksamkeit. Im sanften Licht der Geduld gedeiht das Einzigartige. Literatur, Kunst generell liesse sich geradezu definieren als das Einüben solcher Geduld. Sie ruht auf einem besonders kalibrierten Blick, einem besonderen Habitus des Sein-Lassens von etwas als das, was es ist.
Man muss nicht ausgewiesener Künstler, Schriftsteller oder Philosoph sein, um die Erfahrung des Einzigartigen zu machen. Man muss nur den Wechsel von der passiven zur aktiven Aufmerksamkeit üben. Dazu gibt es überall und jederzeit Gelegenheit; und es gibt verschiedene Stufen dieser Übung.
Die erste Stufe besteht in einer Renitenz. Sie lässt sich zum Beispiel mit Vorteil auf Reisen pflegen. Wir werden als Touristen ja abgerichtet zu einer veranstalteten Wahrnehmung all des „Sehenswürdigen“ der Welt. Der Idealtourist ist der passiv aufmerksame: Er sieht und lichtet all das ab, was ihn Reiseprospekt und -führer bereits im Voraus zu sehen veranlasst haben. Die Renitenz würde nun darin bestehen, dass man aus dem Wahrnehmungsdispositiv der Tourismusindustrie ausbricht (was auch im Wortstamm „reisen“ steckt: aufstehen, aufbrechen, ausbrechen). Man begibt sich auf die Suche nach dem Einzigartigen im Sehensunwürdigen, Liegengelassenen, Verwüsteten, Unscheinbaren, Plattgetretenen.
Ein Stein vom Juliergebirge
Ich möchte dies anhand einer persönlichen Anekdote veranschaulichen. Ich machte kürzlich mit meiner Frau eine ziemlich ausgedehnte Bergwanderung im Juliergebiet. Ich bin ein Liebhaber von Steinen. Mein Interesse gilt allerdings nicht der Mineralogie und Geologie. Steine sind für mich vielmehr exemplarische Objekte zur Einübung der aktiven Aufmerksamkeit. Die Betreuer des Naturparks Ela haben entlang der Wanderroute verdienstvollerweise Lehrposten eingerichtet, die unseren Blick auf die Alpenwelt belehren und sensibilisieren.
Ich halte diese didaktische Intention durchaus in Ehren, aber ich verweigerte mich ihr, indem ich mich nicht lernpflichtschuldig informierte, sondern mich abseits ins Geröll setzte, um einzelne Steine zu skizzieren. Mich interessierte nicht ihre Zusammensetzung, ihre Herkunft, ihre Zeugenschaft, ihre Washeit, sondern: ihre Haecceitas, ihre Diesheit. Sie werden durch die gehaltene Aufmerksamkeit zu Individuen, und ich nehme sie oft mit nach Hause. Ein stelenartiges Stück hatte es mir besonders angetan (nein, nicht aus bekannten vulgärpsychologischen Gründen), und ich liess daran vom Steinmetz eine Standfläche herausfräsen. Nun steht der Stein auf meinem Schreibtisch als buchstäblich lapidares Zeugnis seiner unscheinbaren Einzigartigkeit.
Zufällig las ich gerade Peter Handkes „Langsame Heimkehr“. Darin erkundet der Geologe Valentin Sorger die Welt, indem er sie zeichnet. „Er zog das Zeichnen, auch in der Arbeit, dem Fotografieren vor, weil ihm die Landschaft in all ihren Formen begreiflich wurde“, heisst es dort. Auf dem Blatt entsteht Linie für Linie, „und er konnte dann, wenn auch nur von sich selber, mit gutem Gewissen behaupten, dagewesen zu sein“.
Hier stösst man auf den Kern des Einzigartigen: Man entdeckt nicht so sehr die Welt, als vielmehr den eigenen Blick auf die Welt – man entdeckt seine eigene Haecceitas: Sieh an, unter all den Diesheiten bin auch ich eine!