Der Ausgang der Mittelschule Nr. 55 in Peking war an einem späten November-Nachmittag belagert von wartenden Eltern. Sie alle wollten erfahren, wie denn ihr Sprössling beim nationalen Beamten-Examen abgeschnitten habe. Die Chance unter die besten 19‘000 von genau 1,12 Millionen Applikanten zu kommen und somit einen Job zu ergattern, war gering. Bei Misserfolg blieb immerhin noch die Hoffnung, auf Provinz-, Präfektur- oder Kreisebene einen Beamtenjob zu besetzen. Selbstredend natürlich mit nochmals einem Examen.
Kaiserliche Tradition
Junge Chinesen und Chinesinnen sind es gewohnt, sich strengem Wettbewerb und Prüfungen zu stellen. Das fängt in der Primarschule an, erstreckt sich über die untere und obere Mittelschule und endet, ein Abschluss ähnlich der Matura bereits im Sack, mit der Zulassungsprüfung für die Hochschule. Das Staatsbeamten-Examen besteht aus einer Multiple-Choice-Prüfung über administrative Fähigkeiten und, als wichtigstem Teil, einem Aufsatz. Nicht mehr der konfuzianische achtgliedrige wie in kaiserlichen Zeiten natürlich. Vielmehr muss zu einem vorgegebenen Thema innerhalb von drei Stunden Denk- und Ausdruckfähigkeit bewiesen werden.
Beamten-Examen haben in China eine Tradition, die bis zum Anfang des 7. Jahrhunderts zurückreicht. Für die gebildeten Stände war das kaiserliche Prüfungssystem ein Lebensziel, auf diesem Weg den sozialen Aufstieg zu schaffen. Unter den neuen, roten Kaisern ist es heute nicht grundsätzlich verschieden. Denn neben guter Entlöhnung und Nebenleistungen gebietet ein Funktionär in Staatsdiensten auch über Macht. Korruption war und ist deshalb die grosse Versuchung. Heute gibt es in ganz China rund zehn Millionen Staatsangestellte, es ist traditionell eine grosse, exzellent organisierte und ausgebildete Beamtenschaft. Nicht von ungefähr ist das Reich der Mitte seit der Vereinigung im Jahre 221 vor unserer Zeit mit wenigen Unterbrüchen ein zentralisierter, straff geführter Staat geblieben.
Von der Eisernen zur Goldenen Reisschale
Während der rasanten Wirtschaftsentwicklung in den 1990er- und 2000er-Jahren gingen viele Chinesen und Chinesinnen in die Privatwirtschaft oder machten sich selbständig. Jetzt mit dem neuen Wachstumsmodell der Führung um Staats- und Parteichef Xi Jinping wird der Staatsdienst für viele wieder attraktiv. Cheng Aiguo ist Vater eines 24 Jahre alten Sohnes, der einen Uni-Abschluss in Romanistik vorzuweisen hat und gerne im Auswärtigen Dienst Diplomat werden möchte. „Stabilität, ein guter Lohn sowie hervorragende Sozialleistungen“, so Cheng, „machen die Arbeit als Staatsbeamter wieder begehrenswert“. Die umstehenden Väter, Mütter und Grosseltern nicken. Vor allem die ältere Generation erinnert sich noch an die alten Mao-Zeiten.
Damals von der Gründung der Volksrepublik 1949 bis zum Beginn der Reformzeitalters war über lange Jahre die „Eiserne Reisschale“ (Tie Fan Wan) das Mass aller Dinge. Angestellte im Öffentlichen Dienst und in Staatsbetrieben sowie Soldaten der Volksbefreiungsarmee hatten abolut sichere Arbeitsplätze. Für Wohnung, Kinderbetreuung und Gesundheit war gesorgt. Die Arbeitseinheit (Danwei) hatte von der Geburt bis zum Begräbnis alles im Griff. Allerdings mussten jene mit der Eisernen Reisschüssel zum Reisen, Heiraten und Kinderkriegen eine Erlaubnis einholen. Die Arbeit konnte nicht ausgewählt werden, sie wurde einem vom Staat zugewiesen.
„Arbeiter- und Bauernparadies“
Sozialpolitisch freilich war die Eiserne Reisschale ein Misserfolg. Massenarbeitslosigkeit war die Folge. In den Staatsbetrieben gab es ganz einfach nicht genug Arbeitsplätze, selbst dann, wenn jede Stelle mehrfach besetzt war. Das förderte den Schlendrian, das Teetrinken sowie Karten- und Mahjong-Spiel am Arbeitsplatz, kurz, die garantierte Reisschale war der Produktivität abträglich. Kriminelle wurden in Arbeitslagern entsorgt, und überflüssige Arbeitskräfte schickte die allmächtige Partei, nicht selten in politischen Kampagnen, „hinunter aufs Land“, wo bei Bauern revolutionäres Wohlverhalten gelernt werden sollte. Rotchina, so hiess das Land damals im Westen, war und blieb – so die Propaganda – ein „Arbeiter- und Bauernparadies“.
Während des „Grossen Sprungs nach Vorn“ (1958-61), als Mao landesweit Kommunen einführte und mit seiner ehrgeizigen Utopie die Industrieländer ein- und überholen wollte, gab es sogar Pläne, die Eiserne Reisschale auch für die Bauern einzuführen. Anstatt Reis zu essen, litten Bauern aber auch Städter Hunger. Der „Grosse Sprung“ war die grösste, von Menschen – in diesem Falle Mao Dsedong – verursachte Hungerkatastrophe der Weltgeschichte mit über 40 Millionen Toten.
„Überlegenheit des Schweizer Kapitalismus“......
Im Laufe der vom grossen Revolutionär und Reformer Deng Xiaoping seit Ende 1978 losgetretenen Wirtschaftsreform wurdedie Eiserne Reisschale langsam abgeschafft, bis sie schliesslich am Ende der 1990er Jahre gänzlich zerbrochen war. Schon zuvor befand der mediale Lautsprecher der Partei „Renmin Ribao“ (Volkstageszeitung) durchaus luzid: „Die staatliche Arbeitsplatzgarantie für alle als ein Zeichen der Überlegenheit des Sozialismus anzusehen, war ein grosses Missverständnis“.
Der Grossvater des Prüflings Cheng ist hoffnungsvoll, dass sein Französisch gebildeter Enkel den Sprung ins Aussenministerium schaffen wird. „Dann hat mein Grosssohn“, so Cheng sich an alte Zeiten erinnernd, „so etwas wie eine ‚Goldene‘ Reisschale“. Als Schweizer Beobachter chinesischer Verhältnisse kommt man im Zusammenhang mit der legendären Reisschale nicht umhin, an die zustandegekommene Initiative für ein garantiertes, bedingungsloses Grundeinkommen von 2‘500 Franken monatlich für alle zu denken. Was wäre denn das: eine „eiserne“ oder eine „goldene“ Reisschale? Wohl eher eine „Eiserne Rösti- oder Fondue-Schale“. Für eine „Goldene“ nämlich müsste man ein schweres Examen bestehen und sich also wacker anstrengen. Das wiederum kann – wenn ich das nicht ganz falsch mitbekommen habe – nicht im Sinne der intiativen Schweizer Schüssel-Vordenker sein. Die NZZ könnte jetzt das Parteiorgan „Renmin Ribao“ plagiieren und schreiben: „Das garantierte Mindesteinkommen für alle als Zeichen der Überlegenheit des Schweizer Kapitalismus anzusehen, ist ein grosses Missverständnis“.