Kein Politiker der Welt wirft sich derart obsessiv in den demokratischen Wahlkampf wie Premierminister Modi. Wie kein anderer spielt er auf der Klaviatur von Beeinflussung und Manipulation. Der Erfolg bleibt nicht aus, aber lückenlos ist er nicht.
An einem Tag klickt Giorgia Meloni in Dubai mit ihm ein Selfie; dann setzt er sich zum Tête-à-Tête-Schnappschuss neben den israelischen Staatspräsidenten; am nächsten Tag steckt sein Kopf in einer riesigen Girlande, dahinter das BJP-Hauptquartier in Delhi. Noch bevor der Tag um ist, posiert Premierminister Modi 1500 Kilometer weiter südlich vor einem Standbild von Shivaji.
Shivaji ist der Lokalheld des Bundesstaats Maharashtra, den kein Politiker ungestraft ignoriert, obwohl er seit 350 Jahren tot ist. Nächstes Jahr finden Parlamentswahlen statt. Da kann es nicht schaden, im wichtigsten Bundesland Indiens – mit Mumbai als Metropole – schon einmal erste Duftmarken zu setzen.
Narendra Modi ist eine perfekt geölte Wahlmaschine. Während andere Politiker nach dem monatelangen aufreibenden Wahlkampf in fünf Bundesländern erst einmal Atem schöpfen, pflügt der PM-Jet bereits wieder durch den indischen Luftraum und setzt seinen Passagier dort ab, wo sich der nächste Ausscheidungskampf abzeichnet. Es ist das richtige Wort, denn Modi hat nur ein Ziel: Die Opposition für immer ausscheiden. Am nächsten Tag sind dem nationalen «Servant Number One» – so nennt er sich selber – die nationalen Schlagzeilen sicher, begleitet von Fotos mit Modi in Helden- oder Asketenpose.
Die Girlande, von der Dicke einer Pythonschlange, galt dem Sieger der Landtagswahl. Ausser im Stammesstaat Mizoram im äussersten Nordosten des Landes war er heftig umkämpft gewesen. In zwei der drei Staaten – Rajasthan und Chattisgarh – hatte die Kongresspartei regiert, mit einem ansprechenden Leistungsausweis. Im grossen zentralindischen Madhya Pradesh mit der Hauptstadt Bhopal zeigte die lokale BJP nach fünfzehn Jahren an der Macht Ermüdungserscheinungen.
Einmal mehr war Modi der Publikumsmagnet. Obwohl seine physische und mediale Präsenz als abtretender Präsident der G-20-Staaten international gefragt war, mit mehreren Abschluss-Konferenzen, hatte er immer wieder Zeit für Wahlauftritte. Man rieb sich die Augen und fragte sich manchmal, ob er eigentlich einen Modi-Klon einsetzte, der das alles bewältigte. Oder vielleicht war er (ein) Gott?
Wahlkampf mit grosser Kelle
Modis Rhetorik ist nicht nur mit Giftpfeilen für den Gegner und prophetischem Dröhnen für seine Anhänger gespickt. Grössere Regierungsprojekte werden heute nicht mehr vom Fachminister, sondern von Modi angekündigt, sei es ein Strassenprojekt, eine Trinkwasser-Initiative oder eine Impfkampagne.
Nur wenn etwas schief geht, wie etwa kürzlich bei einem Tunneleinbruch im Himalaya, müssen die unteren Chargen vor die Kameras treten. Umwelt-Fachleute hatten vor dem Strassenprojekt gewarnt, aber wegen dem Gütesiegel Modis musste es durchgezogen werden. Als die vierzig Bergleute nach zwei Wochen gerettet wurden, war er einmal mehr präsent, aber nicht als Schuldiger, sondern als Retter: Dank Modi sei den Einsatzkräften das Unmögliche gelungen, beteuerten die Lokalpolitiker.
Im kürzlichen Urnengang waren selbst abgebrühte Kommentatoren erstaunt, mit welch grosser Kelle die Wahlgeschenke angerichtet wurden. Sie lasen es als Indiz, dass den Menschen in diesen drei armen Bundesstaaten Jobs, Arbeit und Lebensmittelpreise wichtig waren, nicht anti-muslimische Tiraden.
Und Modi geizte nicht. Ein Dollarmilliarden-schweres Sozialprojekt, das in den Krisenjahren der Pandemie allen Bezügern mit Rationenkarten Gratis-Nahrungsmittel sicherte, wurde von Modi um weitere fünf Jahre verlängert. Bei einer Wahlkampfrally nannte er die Zahl der beschenkten armen Schlucker: 813 Millionen Menschen. Das sind drei Viertel des ländlichen Indiens, und die Hälfte der städtischen Bevölkerung. (Sei’s drum, dass damit die offizielle Statistik in ein schiefes Licht geriet, laut der es Modi gelungen sei, die Zahl der Armen auf unter zehn Prozent zu senken.)
Opposition mit Modis Rezepten – erfolglos
Da in zwei der drei zentralindischen Bundesländern Kongress-Regierungen am Ruder waren, nahmen auch sie die Gelegenheit wahr, auf Kosten des Steuerzahlers grosszügige Versprechen zu machen. Noch nie, schrieb der «Indian Express», habe sich das Füllhorn von Freebies derart weit geöffnet. «Competitive Welfarism» nennt es die Zeitung: Bankzugang für Frauen, mit einem Bargeschenk im Konto, Schuldenerlass für Bauern, Gratis-Saris für jede Wählerin, Fahrräder für Schulmädchen.
Es mögen billige Zuckerstengel sein, aber wenn Politiker sie einsetzen, dann weil sie wissen, wie gross die Not einer riesigen Mehrheit bedürftiger Inderinnen und Inder ist (das Land liegt im Hungerindex der Uno auf Rang 112 – von 125). Die Wahlgeschenke wurden zudem religiös verbrämt, etwa wenn Hilfsprogramme den Namen einer Göttin tragen, oder wenn materielle Versprechen einhergehen mit Vorhaben für neue Tempel und imposante Götterstatuen.
Niemand versteht es besser als Modi, auf dieser Klaviatur zu spielen. Und da Heilsversprechen und Wohlfahrt eine schwer zu schlagende Kombination darstellen, beeilt sich inzwischen auch die «säkulare» Opposition, allen voran der Kongress, mit den Göttern buchstäblich Staat zu machen. Die Partei blickt dabei auf die nächste Gesamtwahl im nächsten Jahr, die der Premierminister mit der triumphalen Einweihung eines Ram-Tempels in Ayodhya einläuten wird.
Doch «Soft Hindutva» half dem Kongress in den drei wichtigen zentralindischen Bundesstaaten wenig. Er verlor in allen drei mit deutlichen Sitzverlusten. Den Grund dafür erkannte der Politphilosoph Pratap Bhanu Mehta in ebendiesem Versuch, die Hindutva-Partei mit deren eigenem Wahlrezept zu schlagen. Er sah es genau umgekehrt: Die BJP zwang der Opposition dieses Narrativ auf, wohlwissend, dass Wähler die Pose durchschauen, während sie der Hindu-Partei darin eine Kernkompetenz zugestehen.
Kein Durchmarsch für Modi
War diese Wahl ein Vorspiel für das nationale Wahlfinale von 2024? Und würde es der bereits taumelnden Opposition den KO-Schlag versetzen? So schlimm ist es bei weitem nicht. Zum einen, weil der Kongress in der fünften Lokalwahl, der einzigen im Süden des Landes, einen überraschenden Sieg einfuhr. Zwar war der Gegner in Telangana (so heisst der junge Bundesstaat mit Hyderabad als Hauptstadt) nicht die BJP, sondern eine Lokalpartei. Aber die Partei Modis landete abgeschlagen auf dem dritten Rang. Sie verlor dort mehr Sitze als sie dem Kongress in den drei nordindischen Staaten abgenommen hatte.
Die Auszählung der Stimmen in allen fünf beteiligten Provinzen brachte ein weiteres paradoxes Phänomen zum Vorschein. Bei Majorzwahlen klaffen die Zahlen zwischen Sitzen und Stimmen oft weit auseinander. Dies geschah auch hier: Zählt man die Zahl der abgegebenen Wahlzettel, erreichte der Kongress unter Rahul Gandhi eine Million Stimmen mehr als Narendra Modis BJP (49 gegen 48 Millionen).
Dennoch, der BJP-Sieg in Nordindien zeigt einmal mehr, dass die Partei unter Innenminister Shah ihre Hausaufgaben besser gemacht hatte als die Opposition. Sie konnte verschiedene Lokalparteien und Kastenkoalitionen an sich binden und erreichte so, dass sie mit einer geringeren Prozentzahl der Wähler ihren Kandidaten durchbrachte. Derweil konnte die vereinigte Opposition – sie firmiert unter dem Kürzel «INDIA» – nicht über den Schatten eines tief verankerten Misstrauens gegen die alte Kongresspartei und die Gandhi-Dynastie springen.
So geschah es, dass der Premierminister seinen Nimbus als unbesiegbarer Wählergott weiter stärken konnte, und dies kurz vor dem Startschuss zu seiner dritten und vielleicht letzten Amtsperiode. Wer schaut schon hinter die gigantische Plakatwand mit dem allgegenwärtigen Konterfei und entdeckt, dass auch Modi nur ein Politiker ist, der auf die subtile Austarierung von Wählergruppen angewiesen ist, um seine Kandidaten durchzubringen. Auch Götter sind sterblich.
A propos: Die Regierung in Delhi hat staatliche Institutionen (Armee, Polizei, Forschungsanstalten, Schulen u. v. a.) angewiesen, in ihren Anlagen «Selfie Points» zu errichten, damit das Publikum dort Erinnerungsfotos schiessen kann. Die Vorgabe: Die Wand im Hintergrund ziert ein lebensgrosses Porträt des Premierministers – der «Selfie Point» als digitale Version eines Götterschreins.