Aber welchen der fünf Päpste, mit denen der Theologe von Wittenberg direkt oder indirekt zu tun hatte? Den ersten, nämlich Leo X. Aber eigentlich mehr oder minder alle. Für Martin Luther waren nämlich nicht nur die einzelnen Päpste, sondern das damals sich präsentierende Papsttum schlichtweg „vom Teufel“. Eine solche Rede war sicherlich eine damals übliche verbale Aggression, um jemanden schlecht darzustellen. Aber dahinter stand die herrschende Vorstellung von einem realen Teufel, der sich jederzeit in Menschen (und auch Tieren) und damit auch in Päpsten zeigen kann. In der Zeit Martin Luthers hatte der Teufel Hochkonjunktur. Der 1486 erschienene „Hexenhammer“ als Anweisung, wie mit den Hexen (und auch Ketzern) als vom Teufel Besessene umzugehen sei, ist nur einer der Belege dafür.
Die Verteuflung des Papstes durch Martin Luther spitzte sich zu in der apokalyptischen Vision, im Papst erschiene der „Antichrist“, die schlimmstmögliche Erscheinung des Bösen in der Geschichte. Wenn dieser erschiene, dann komme das Weltende mit dem Einschreiten Gottes, der alles Böse und alle Bösen vernichte und die Guten zu sich hole. Zumindest hat sich Martin Luther zunächst ab 1521 besorgt, dann immer aggressiver und sicherer in diese Richtung geäussert.
Deutsch-italienisches Zerwürfnis
Aber warum galt der wachsene Zorn Martin Luthers den Päpsten und dem Papstum? Dazu nur einige Blitzlichter.
(1) Die Mehrung des Geldes und Besitzes und vita dolce mit Kunst, Mätressen und Lustknaben im Sinne der Renaisance waren oberste Prinzipien der römischen Kurie. Gezeugte Kinder konnten mit Geld offiziell anerkannt werden. Reformforderungen und -beschlüsse halfen nichts.
(2) Parallel dazu wurde die Unfehlbarkeit des Papstes, nicht nur in theologischen, sondern in allen Belangen, zementiert – für Martin Luther ein schamloses Ausnützen der Religion für die eigenen Machtinteressen.
(3) Die Italiener empfanden aufs Ganze das deutsche Volk als „barbarisch“ und in jeder Hinsicht ungebildeter und zu vernachlässigen. Und die Deutschen reagierten mit einer tiefen Verachtung den Italienern gegenüber. Das Verhältnis zwischen Rom und Deutschland glich schon vor dem Auftreten Martin Luthers einem angeheizten Kochkessel. Dessen Deckel wurde dann durch den so genannten Ablassstreit weggesprengt.
(4) Mit der Grosskampagne des Ablasshandels sollte nach päpstlichem Willen der Erzbischof Albrecht von Hohenzollern einen Teil seiner entrichteten Riesensumme an Rom wieder einfahren. Reiche wie arme Leute konnten durch eine Geldabgabe ihre Zeit im Fegefeuer abkürzen, sogar die Zeit im Fegfeuer von bereits Gestorbenen. Das empfand Martin Luther nicht nur als ein Erkaufen der göttlichen Gnade, sondern katastrophal für das Seelenheil der einfachen Leute. Denn angesichts von Geldopfern ohne tiefe Reue und innere Umkehr würde Gott die Gnaden-Käufer und -Käuferinnen buchstäblich zum Teufel in die Hölle schicken. Mit einem Brief an Erzbischof Albrecht und den dann folgenen berühmten 95 Thesen – wohl nicht an die Wittenburger Kirchtüre geheftet – tritt der Theologieprofessor in seine erstaunlich schnell wachsende Rolle als Reformator. Das ist klar: Ohne den kompromisslosen Schutz durch seinen Landesfürsten Friedrich den Weisen wäre Martin Luther wie Jan Hus 1415 auf dem Scheiterhaufen gelandet.
Prophetisches Werkzeug Gottes
Sein wachsendes Selbstverständnis lautete: Mit ihm, Martin Luther, gestalte Gott die Umwandlung, die „Reformation“ der Christenheit. Immer mehr empfand er sich als prophetisches Werkzeug Gottes. Wenn die Reformation für ihn nicht genug vorankam, konnte er sich in der apokalyptischen Vision vom Antichrist und Endgericht innerlich Hilfe holen. In diesem Zusammenhang muss wohl der berühmt gewordene Spruch gehört werden: „Wenn ich wüsste, dass die Welt morgen unterginge, würde ich heute noch ein Apfelbäumchen pflanzen.“ Die apokalyptische Vison soll also nicht dazu verführen, nicht mehr für die Sache Gottes Hand anzulegen.
Das ist eine der Perspektiven, die uns Volker Reinhardt in seiner Studie „Luther der Ketzer – Rom und die Reformation“ nahelegt. Der Berner Historiker zeigt auch eindrücklich, dass die Reformationsbewegung nicht so sehr wegen theologischen Fragen (mit Ausnahme des Papst-Verständnisses) zur Kirchenspaltung führte. Entscheidend war vielmehr der oben schon genannte Kultur-Clash zwischen Italienern und Deutschen – und nicht minder die politischen Macht- und Ränkespiele zwischen allen Herrschenden in Europa. So war z. B. der junge katholische Kaiser Karl V. aufgrund des politischen Streites mit dem Papst nicht gewillt, dessen Forderung umzusetzen, nämlich Martin Luther und seine Anhänger mit Waffengewalt auf die Linie Roms zu zwingen.
Wie ein Verrückter lachend
Spannend ist die Methode von Volker Reinhardt. Er lässt sowohl die lutherisch-orientierten Dokumente als auch die weniger bekannten römisch-orientierten Dokumente (der Legaten, Nuntien und päpstlichen Schreiber) gleichzeitig zu Wort kommen, so dass wir eine Stereo- oder Simultan-Berichterstattung beider Seiten vor uns haben, die der Berner Historiker gleichberechtigt wertet. Das ist dann besonders spannend, wenn beide Seite zu demselben Ereignis Bericht erstatten, so über den Wormser Reichstag 1921. Dabei entsteht bisweilen der Eindruck, dass beide Seiten von etwas völlig anderem sprechen. Aber das ist ja der Charakter einer konfliktären Situation.
So schildert der römische Nuntius Aleandro, wie Martin Luther bei seinem ersten Auftritt in Worms 1521 vor dem Reichstag wie ein Verrückter lachend und mit dem Kopf wackelnd eingetreten sei. Auf die Frage, ob er widerrufe, habe er dann überraschend erneute Bedenkzeit erbeten und sei „gar nicht mehr so fröhlich“, sondern wie benommen abgezogen. Der Nuntius glaubt, dass er am nächten Tag widerrufen wird. Am nächsten Tag aber erlebt er einen völlig anderen Martin Luther, der, statt zu widerrufen, stundenlang mit seinen Lehren und Schriften auftrumpft und kaum zu stoppen ist, nur schliesslich durch den Kaiser Karl V. selbst. Dann erst sagt er, er werde nicht widerrufen. Das Diktum „Hier stehe ich und kann nicht anders“ ist einer der späteren Anekdoten, aber sinngemäss in einer schriftlichen Notiz zu finden.
Teufelswahn
Aber zurück zum Teufel. Dieser war in Martin Luthers gesamtem Denken und Erfahren stets präsent, zunächst einmal als die grosse Gegenmacht Gottes, die Gott auch als Strafe oder Geissel für die sündigen Menschen einsetzt. Aber diesen „grimmigen“ Feind sah Martin Luther überall im Detail am Werk: schon in widerborstigen Jungen, in Missgeburten und Wechselbälgen, in Zauberern und Hexen, in Mischwesen aus Mensch und Teufel. Überall witterte er dessen perfides Wirken. Auch seine eigenen Krankheiten führte er auf den Fürsten der Finsternis zurück. So nachzulesen in seinen späten Tischreden. Er hat auch persönlich mit dem Teufel gerungen: Jede Anfechtung oder jeder Impuls, eine Einsicht zurückzunehmen, den Kampf nicht weiter zu führen, mit Schreiben aufzuhören – dies alles empfand er als eine Einflüsterung des Teufels.
Dazu gibt es folgende Anekdote. Martin Luther überlegt beim Schreiben mit Feder und Tintenfass in der Wartburg, ob er wirklich richtig liege mit seinen Gedanken. Da bemerkt er in der Zimmerecke den Teufel, der ihm dies einflüsterte und wütend wirft er das Tintenfass in die Ecke, um den Teufel zu treffen. (Bis heute wird in der Wartburg der Tintenfleck in der Ecke von Martin Luthers Schreibzimmer gezeigt und immer neu aufgefrischt, weil so viele Hände von Besuchern den Fleck spüren wollen.) Die Anekdote hat einen wahren Kern, denn sie verweist auf den lebenslangen, sehr lebhaften Umgang Martin Luthers mit dem Teufel. Klingt das nicht aus heutiger Sicht wie ein persönlicher Teufelswahn, der natürlich nur in einem kollektiven Teufelswahn gedeihen konnte?
Prädestination
Thomas Mann hat die Titenfass-Anekdote in seinem Roman Doktor Faustus zweimal eingeblendet. Einmal ist es im Kapitel XII der Luther-Fan und Theologieprofessor Ehrenfried Kumpf, der die derbe Sprache Martin Luthers im Munde führt. Dieser ahmt denn auch die Tintenfass-Szene bei einem häuslichen Fest nach, dort, in Ermangelung eines Tintenfasses, mit einer Semel – dies sowohl zur Irritation als auch zur Belustigung seiner Gäste, zu denen der Protagonist des Romans, Adrian Leverkühn, und sein Freund Serenus gehören. Zum zweiten erinnert in Kapitel XXV der Teufel selbst im so genannten Pakt oder Zwiegespräch mit Adrian, dass Martin Luther ihn, den Teufel, habe vergeblich mit dem Tintenfass vertreiben wollen. Wie in Pestzeiten zuvor und im Dreissigjährigen Krieg danach, so prahlt der Teufel, habe man ganz intensiv an seine Kraft und Allwirksamkeit geglaubt. Heute, im 20. Jahrhundert, sei das leider nicht mehr so. Umso mehr müsse Adrian sich auf ihn verlassen. Adrians schriftlichen Bericht über dieses Zwiegespräch – der für mich spannenste Teufeltext der modernen deutschen Literatur – lese ich als Ausdruck eines Teufelwahns, wie ich ihn in einem zum Herbst erscheinenden Buch über Engel- und Teufelsbilder in der modernen Dichtung und Kunst entfalte.
Der Teufel erscheint natürlich auch in Martin Luthers theologischen Schriften. So z. B. in der Lehre von der so genannten Prädestination, die er zeitlebens vertrat. Prädestination bedeutet: Gott habe in seiner absoluten Freiheit vorher bestimmt, wer von den Menschen im Tode oder beim apokalyptischen Jüngsten Gericht zum Himmel des Christus erlöst oder zur Hölle des Teufels verdammt werde. In seiner lateinischen Schrift „De servo abitrio“ (Vom geknechten Willen) von 1525, schreibt er: „Auf diese Weise ist der menschliche Wille mitten zwischen beide gestellt, ganz wie ein Reittier, wenn Gott darauf sitzt, will er und geht, wohin Gott will [...]. Wenn der Satan darauf sitzt, will er und geht, wohin der Satan will. Und er hat nicht die Entscheidungsfreiheit, zu einem der Reiter zu gehen oder ihn zu suchen, sondern die Reiter selbst streiten darum, ihn festzuhalten und zu besitzen.“
Aufständische Bauern totschlagen
Ich habe ich mich gefragt, wie geht diese von Augustinus übernommene Prädestinationslehre mit Martin Luthers tiefer, fast mystisch klingender Erfahrung einher, aus dem Vertrauen oder Glauben heraus „gerechtfertigt“, d. h. völlig angenommen zu sein. Als Seelsorger betont er, man solle nicht darüber grübeln, ob man nun zu den Geretteten oder Verdamten gehöre. Man solle eben glaubend vertrauen. Damit ist natürlich die damals grassierende Angst, doch zu den Verdammten zu gehören, vielleicht für einen Augenblick, aber nicht grundsätzlich gebannt. Diese Ungereimheit und andere logischen Gegensätze gehören für mich zur spezfischen Unfasslichkeit der Gestalt Martin Luthers.
Zu Martin Luthers Unfasslichkeit gehören auch die hasserfüllten Worte, die gegen Ende seines Lebens zunehmen. Bekannt ist sein früher Aufruf von 1525 an die deutschen Herrscher beider Lager (der katholischen wie protentantischen), die aufständischen Bauern totzuschlagen. Sie hätten den Sinn seiner Predigt von der Freiheit eines Christenmenschen völlig verdreht und für sich ausgenutzt. („O Nu greiffe zu, Kaiser. König, Fürsten und Herrn, und wer zugreiften kann, Gott gebe hie faulen Händen kein Glück.“) Bekannt sind auch seine späteren antisemitischen Aufrufe in der Schrift „Von den Juden und ihren Lügen“, z. B. die jüdischen Synagogen und Schulen völlig niederzubrennen. In früheren Jahren hatte er den jüdischen Glauben geschätzt. Hinter dem späten Hass stand wohl mehr die Enttäuschung darüber, dass die jüdischen Gemeinden sich nicht seiner unbedingt als wahr empfundenen Lehre anschlossen. Damit erwiesen sie sich für den Reformator als schon von Ewigkeit her Verdammte. Volker Reinhardt meint, Martin Luther setze anstelle der alleinseligmachenden Kirche Roms jetzt seine alleinseligmachende Lehre. Anstelle des römischen tritt der deutsche Unfehlbarkeitsanspruch.
Rachephantasien
Weniger bekannt sind Martin Luthers ganz späte Hass-Tiraden dem Papst und allen Papisten gegenüber. Sie stehen in der vorletzten, 1545 gedruckten Abhandlung „Wider das vom Papstum zu Rom, vom Teufel gestiftet“. Danach gehören, wie auch ein gedrucktes Bild zeigt, der Papst und Kardinäle an die Galgen. Ja, man solle ihnen „die zungen hinden zum halse heraus reissen, und an den Galgen an nageln“ und aufreihen, und zwar so, wie die Siegel an päpstlichen Bullen (das sind ihre offiziellen Schriften) angeheftet waren. Das liest sich wie eine Rachephantasie: So wie früher ab 1917 die päpstlichen Siegel an der Bannandrohung und der Bannbulle für Martin Luther hingen, so sollen jetzt die Zungen der Päpste und Kardinäle aufgereiht am Galgen hängen.
Gegen den ab 1534 amtierenden Papst Paul III. wütet Martin Luther wie gegen keinen anderen der Päpste. Hinter all seinem Getue stehe, wie jeder wisse, sein „hellisch, teuflisch wesen zu Rom“, in dem er die irdischen und geistigen Güter der Kirche zusammen mit seinem Sohn ruiniere. Dann folgt ein atemberaubendes Crescendo. Dieser Papst sei „das heubt der verfluchten kirchen aller ergsten Buben auff erden. Ein stathalter des Teufels, ein feind Gottes, ein widersacher Christi und verstörer der kirchen. Ein lerer aller lügen, Gotteslästerung und abgötterei. Ein Ertzkirchendieb und Kirchenreuber der schlüssel, aller güter beide der kirchen und der weltlichen Herrn, ein mörder der Könige, und hetzer zu allerley blutvergiessen. Ein hurnwirt über alle hurnwirte und aller unzucht, auch die nicht zu nennen ist, ein Widerchrist, ein Mensch der sünden und kind des verderbens, ein rechter Beerwolf.“
Die dunkle Seite des Genies
Es folgt ein Aufruf, dessen Tenor uns schon angesichts der Bauernkriege bekannt ist. Wer im Kampf gegen den Papst und die Papisten falle, könne sich seines Verdienstes sicher sein: „Er [der Papst] hat den Teufel für sich, So haben wir Gottes Wort für uns. Las frisch hergehen, sterben wir darüber, so leben wir deste herlicher mit Christo.“ Seliger könne also niemand sterben, als derjenige, der im Kampf gegen den Papst sterbe. Das erinnert mich an gegenwärtige Aufrufe von fanatischen Bewegungen wie dem Islamischen Staat.
Martin Luther lässt in all dieser Polemik auch wieder sein Selbstverständnis erklingen. Mögen die Papisten ihn für einen Esel halten, er wisse, „das ich von Gottes sonder gnaden gelehrter bin in der schrift“. Es war für ihn bis zum Schluss unvorstellbar, dass Menschen guten Willens und Gewissens seine Lehre nicht als Wahrheit empfinden. Sollte er sterben, möge ein anderer noch stärker rebellieren. „Denn die teuflische Bepsterey ist das letzt unglück auff Erden, und das neheste, so alle teufel thun können mit alle irer macht. Gott helffe uns, Amen.“
Die teufelsgläubige, hasserfüllte und narzisstische Seite in Martin Luther steht neben all seinen anderen Seiten, die vielleicht mehr bekannt sind: sein Engagement als Seelsorger, seine Sorge für die Familie, seine erfrischende Derbheit, seine Wortgewalt und Übersetzung der Bibel, die das deutsche Sprachgut bis heute mitprägt, seine tiefe religiöse Erfahrung als Bezogenheit auf seinen Gott, seine Sorge um die Bildung des einfachen Volkes, die später zur Volksschule führte und anderes. Kurz: Er war ein „Genie, das den Reformator gebar“, wie ich irgendwo las. Aber auch Genies haben immer die zu erwartenden dunklen Seiten. Das ist ja das Verrückte, dass wir mit einem Menschen, gleich welcher Art, nie fertig werden, sondern seine Unfasslichkeit akzeptieren müssen. Das legte uns Max Frisch besonders nahe: „Du sollst dir kein Bildnis machen.“ Wenn ich mir ein Bildnis mache, dann gebe ich vor zu wissen, wie und wer diejenige Person ist. Damit sperre ich die Person in ein Gefängnis. Der offene, und erst recht der liebende Blick sucht im Anderen die Unglaublichkeit, die Unfasslichkeit mit allen möglichen und scheinbar unmöglichen Facetten.
Volker Reinhardt: Luther der Ketzer. Rom und die Reformation. Verlag C. H. Beck, München, 2. Auflage 2016
Sturmius Wittschier: Trotzengel und Schutzteufel. Engel und Teufelbillder in der modernen deutschsprachigen Dichtung und Kunst. Verlag taotime, CH-Bonswill (erscheint im Herbst 2017).