Vor einem Jahr erschienen die Resultate einer repräsentativen Umfrage, in der ermittelt wurde, was Indien wohl am besten definiert. 64% der 2200 Befragten antworteten: Bollywood. Dahinter folgten, der Reihe nach, Mahatma Gandhi, der Taj Mahal und Cricket.
Die Filmindustrie von Bombay hat sich in den letzten dreissig Jahren zu einem potenten Wirtschaftsfaktor entwickelt. Früher hatte sie Hollywood nur Konkurrenz in der grössten Zahl von Filmproduktionen gemacht. Nun sind diese auch zu einem Exportschlager geworden, nach Mittelost, Maghreb, Südostasien, Brasilien, Japan. In Deutschland erscheint sogar ein Bollywood-Magazin namens Ishq. Vor dem hohen Tor des Anwesens von Shahrukh Khan traf ich einmal eine Deutsche mittleren Alters. Sie war bereits das dritte Jahr hier, um endlich ein Auge auf den Star werfen zu können.
Muslime als Superstars
Ishq bedeutet ‚Liebe’ und das ist auch aus einem anderen Grund symptomatisch. Das Wort stammt aus dem Urdu, der Sprache der Muslime des Subkontinents. Und nirgends tauchen Urdu-Ausdrücke häufiger auf als im Sprach-Masala des Bollywood-Slangs. Keine andere Industrie wurde so stark von Muslimen geprägt wie diese, seien es Regisseure, Skriptschreiber, Komponisten, Produzenten. Und Schauspieler wie die drei Musketiere, die das Box Office von Bollywood seit zwanzig Jahren beherrschen. Sie heissen alle Khan - Imraan, Salman, Shahrukh. Dies weist sie nicht nur als Muslime aus, sondern auch als Paschtunen, deren Familien von Peshawar nach Delhi und Bombay ausgewandert waren.
Drei Muslime als Bollywoods Superstars? Und die meisten Schauspielerinnen sind Hindus? Kein gutes Omen in der Zeitrechnung nach Modi. Bereits gibt es einzelne schrille Stimmen, sogar aus der Minister-Riege, die zum Boykott der Khan-Filme aufrufen. Bisher blieben sie ohne das geringste Echo. Das hat seine Geschichte. Wenn es einen Bereich gibt, in dem Indien wahrhaftig ‚farbenblind’ ist, dann ist es die Religionszugehörigkeit ihrer Akteure.
Religionsersatz
In Indien weiss jedes Kind, dass Aamir, Salman und Shahrukh Khan nicht miteinander verwandt sind (‚Khan’ war ursprünglich ein Titel, den sich Turkomanen-Fürsten zulegten). Alle Drei werden in diesem Jahr Fünfzig. Seit 25 Jahren sind sie die unangefochtenen Galacticos des Bombay-Filmstudios, sieht man von Amitabh Bachhan ab, der aber mit über Siebzig lieber seine Marke versilbert als vor der Kamera steht.
25 Jahre die beherrschenden Rollenvorbilder zu sein ist nicht nur biologisch eine Herausforderung. Mit seinen rund eintausend Filmproduktionen – die regionalen Filmstudios in Südindien nicht eingerechnet – ist Bollywood ein mörderisch kompetitives Geschäft. Es lässt seine Stars wie Meteoriten aufblitzen und ebenso rasch verglühen. Dasselbe gilt für das junge Publikum. Bollywood ist sein Religionsersatz, und es lässt Schauspieler gnadenlos fallen, wenn sie die wechselnden Wunschbilder und Trends nicht antizipieren.
Six Pack-Oberkörper
Umso eindrücklicher ist die Fähigkeit der drei Khans, sich über eine Generation hinweg zu behaupten. Mehr noch: sie bleiben die magnetischen Projektionsflächen – von Jugendlichkeit, Aggressivität, Glamour, Sex Appeal, Frust –, obwohl sie immer älter werden. Noch immer bewegen sie in den Tanzszenen rasant ihre Becken. Und sie schwitzen sich Six Pack-Oberkörper ab, damit sich Generation um Generation von Starlets – diese werden handkehrum immer jünger - daran heften können.
Die Filmkassen sagen es deutlich: Aamir nahm in seinen letzten sechs Filmen 10 Milliarden Rupien ein (150 Mio Euro), Salman Khan 8,3 Milliarden und SRK sieben. Die Drei sind weiterhin voller Arbeitswut: In den zehn Jahren zwischen 2002 und 2012 stand Salman Khan 27 Mal vor der Kamera, SRK siebzehn. Nur Aamir kommt bloss auf sechs flicks, weil er bewusst nur alle zwei Jahre antritt.
Liebe, Lust und Lebensfreude
Dass sie ihre Spitzenstellung als Dreigestirn behaupten, ist auch ein Hinweis auf ihre Verschiedenheit. In einem kürzlichen Beitrag im Wochenmagazin Outlook bemühte die Skriptautorin Ishita Moitra die berühmte Persönlichkeits-Pyramide des amerikanischen Psychologen Abraham Maslow, um dies zu beweisen. Maslow ordnete Persönlichkeitstypen aufgrund der menschlichen Bedürfnisse ein. Zuunterst liegen physiologische und existenzielle Sicherheit. In der Mitte liegt die soziale und ästhetische Bedürfnisbefriedigung, an der Spitze stehen Jene, welche die Selbst-Aktualisierung des Egos anstreben.
In der kollektiven Fantasie der Filmzuschauer befriedigt laut Moitra Salman Khan die Grundbedürfnisse – der Outcast, der auf Abwege kommt, sich emporkämpft, Frauen rettet, Verbrecher aus dem Weg räumt. SRK bedient die sozialen Schutzmechanismen – Liebe, Lust, Lebensfreude. Zuoberst steht Aamir Khan, dessen Filme oft eine ideologische oder ästhetische Spannfeder haben – Nationalismus, Korruption, Revolte, Freundschaft. Seine Talkshow Satyameva Jayate thematisiert dringende soziale Probleme Indiens und zeigt Lösungsansätze; sie wird jeweils von über hundert Millionen Zuschauern verfolgt.
Verwischte Grenzen zwischen Leben und Film
Tatsächlich – schaut man unter die uniformen Muskelpakete und die gleichen gutgeformten Gesichter erkennt man darunter rasch die unterschiedlichen Persönlichkeiten. Salman Khan ist ungestüm, zornig, nötigenfalls ein Schläger; SRK der geschmeidige Metrosexual, Aamir schlüpft in viele Rollen und demonstriert damit seine intellektuelle Überlegenheit. Salman, unbekümmert um sorgfältige Rollengestaltung, dreht gleichzeitig drei Filme; SRK ist professionell, diszipliniert, ein gefügiger Schauspieler, der aber am liebsten sich selber spielt. Aamir kontrolliert jedes Detail des Filmprojekts, zieht damit weniger, aber umso grössere, Erfolge an Land.
Trotz unterschiedlichem Publikum sind die Drei Rivalen, und sie gehen sich aus dem Weg. Was nicht leicht ist, denn sie wohnen alle im ‚Bollywood-Wohnviertel’ von Bandra, SRK und Salman an der gleichen Strasse. Und bei der indischen Vergötterung der Bollywood-Helden lässt sich nicht vermeiden, dass sich die Grenzen zwischen Leben und Film oft verwischen.
Nur Wasser getrunken?
Jeden Sonntagnachmittag ist die Strasse vor SRKs Haus verstopft durch Fans, die hoffen, einen Blick auf ihr Idol zu erhaschen, unbekümmert um Autoschlangen und stundenlange Hupkonzerte. Salman Khan kann auf ähnliche Zusammenrottungen blicken, wenn er aus dem Fenster seines Hauses – Galaxy – auf die Fans blickt. Nur vor Aamirs Wohnblock gibt es höchstens gelegentliche Spaziergänger, die vor dem Tor ein Selfie schiessen. Aamir wohnt in einem Mehrfamilienhaus, und auch Salman, das ist er sich schuldig als Gott der kleinen Leute, wohnt immer noch in der Wohnung der Eltern, zusammen mit seinen Geschwistern. Nur SRK, dieser kollektive Mittelklasse-Traum lebt standesgemäss: eine alte Villa mit Kolonnaden, dahinter ein fünfstöckiges Haus aus Glas und Metall.
Der Spillover-Effekt von Traumfabrik und Realität heisst aber, dass die Superstars auch sonst nicht unantastbar sind. Im Gegenteil: Indien liebt seine Götter, aber Hybris ist des Teufels. Dies muss SRK lernen, dessen Glashaus-Anbau alle Bauvorschriften verletzt; er kämpft seit Jahren gegen 23 Gerichtsklagen. Salman Khan sitzt noch tiefer in der Tinte. Gegen ihn läuft ein Gerichtsverfahren wegen fahrlässiger Tötung. Vor dreizehn Jahren überfuhr sein SUV fünf schlafende Obdachlose, Einer starb. Niemand weiss, wie es dem Star gelang, das Verfahren so lange zu verzögern. Und niemand weiss, ob das Gericht ihm am Ende glauben wird – dass er an jenem Abend in einem Etablissement namens Rain Bar lediglich Wasser getrunken hatte. Nur Aamir Khan kann seinen Fünfzigsten in Ruhe feiern - mit einer neuen Ehefrau, und einem Baby.