Das Leben aus der Vergangenheit ist jener nie ganz durchschaubare, ja nicht einmal völlig überschaubare Bereich, aus welchem ein Künstler alles schöpft, aufnimmt, verarbeitet und umsetzt, was ihm im Verlauf seiner Existenz zu seiner Eigenprägung und Einzigartigkeit verhilft. Dazu gehören die eigenen Gene ebenso wie die „Zufälligkeiten“ der eigenen Lebensumstände: wo und wie man aufwächst und sozialisiert wird, mit welchen Sprachen, Kulturen und Lebensformen man vertraut und in welchen sogar heimisch wird, an welchen ungelösten Fragen und Rätseln sich die eigene Neugier und der eigene Tatendrang entzünden.
Es wird uns ja nicht alles bereits an der Wiege gesungen. Lebenswille und Forscherdrang werden oft aus glücklichen Zufällen geboren. Nicht die geringsten Impulse und Anregungen verdanken wir oft unseren Vorbildern, jenen Menschen also, die uns etwas zutrauen und zumuten. Dass jemand Journalist wird und zur Klarsicht des Daseins beitragen will durch Erweiterung des Blickwinkels, durch Reflexion und ordnendes Gestalten, ist bald einmal verständlich, wenn man erlebt, dass ein grosser Teil der Menschheit sich in einheimischen Ideologien einrichtet und in diesen auch gefangen bleibt.
Ich habe Georg erst kennengelernt, als ich bereits über 40 Jahre alt war und nach vielen Jahren im Ausland wieder in die Schweiz zurückkam. Er war damals bereits weltbekannt durch seine Bücher und seine Fotoreportagen. In der Bibliothek meiner Schwiegereltern in Aachen gab es eine ganze Reihe von Gerster-Büchern über mir vollkommen unvertraute Teile dieser Welt: beispielsweise über Nubien, Äthiopien, Ägypten. Nun lernte ich ihn kennen, den knapp 60-jährigen Erfolgsfotografen und Reporter, und es kam mir vor, als lebe da in Zumikon mitten unter uns der „Alexander von Humboldt unserer Tage“, ein Weltentdecker von Gottes Gnaden, der bei jeder Expedition in nahe und entlegenere Teile unseres Planeten die erstaunlichsten Bilder einfing, Bilder der Erde, die man so noch nie gesehen hatte.
Georg Gerster hatte aber nicht nur das besondere Auge für die Sicht von oben und für alles, was sich erst aus angemessener Distanz und Höhe in seiner Eigenheit offenbart, er besass dazu die besondere Gabe der Kontextualisierung und schrieb zu seinen Bild-Funden die präzisesten Kommentare, die nicht nur historisch äusserst zuverlässig und auf dem allerneuesten Stand des Wissens waren, sondern in den allermeisten Fällen auch von so zeitkritischen wie witzigen Aperçus begleitet waren.
Schwer zu sagen also, woher diese Passion von Georg für die Verbindlichkeit der Realität, in welcher erst deren Schönheit aufscheint, letztlich stammt. Goethe hat – Eckermann gegenüber und Alexander von Humboldt betreffend – einmal behauptet, dieser habe «an Kenntnissen und lebendigem Wissen nicht seinesgleichen». Mancherlei Kenntnisse haben ja viele. Entscheidend aber ist das «lebendige Wissen». Warum hörte man Georg so gebannt zu, wenn er von seinen Expeditionen und Erlebnissen in Flugzeugen und Helikoptern, von technischen Pannen und ungewohnten Wetterbedingungen, von tollkühnen Luftakrobaten und nervenstarken Mechanikern erzählte?
Seine von englischer Lebensart geprägten Untertreibungen waren immer von «lebendigem Wissen» durchpulst und genährt. Wer das Glück hatte, über die letzten drei Jahrzehnte seines Lebens hinweg mit Georg befreundet zu sein, begegnete diesem «lebendigem Wissen» in Reinkultur. In seiner Gegenwart empfand man das Leben als «erfahrungsgesättigt» und als «illusionsarm». Er hatte Freude am Skurrilen, verabscheute aber das Zynische. In Gesprächsrunden war er ein begnadeter Stichwortfänger. Wo das Gespräch durch Tratsch oder Selbstgefälligkeit in seichtes oder gar sumpfiges Gelände abzusinken drohte, griff er ein zuvor in der Runde gefallenes Stichwort elegant auf und «besserte nach»!
So kam an ihm oft etwas zum Vorschein, das man nur als vornehme Diskretion oder als angeborener Anstand bezeichnen kann. Dabei war seine eigene Gefühlspalette erstaunlich breit. In der Abwehr von Unzumutbarem war er alles andere als zimperlich und ausweichend. Gegenüber Dummheit und Einbildung zeigte er sich dezidiert intolerant. Wenige Tage vor seinem Tod erzählte er mir mit feuriger Entschiedenheit und leuchtenden Augen von zwei Ausstellungen, die er mit je 40 Bildern in München und in Wien noch gestalten wolle. Sowohl die Auswahl wie die Art und Reihenfolge der Hängung: das sei und bleibe seine Sache! Vom Himmel aus wird Georg nun mit wohlwollender Verwunderung zuschauen, wie die Nachkommenschaft mit «seiner Sache» umgeht.
Ein Künstler hat eben nicht nur ein Leben aus der Vergangenheit und eines in der Gegenwart. Er hat auch eines für die Zukunft. Georgs Bilder und Bücher sind zwar bleibende Dokumente seines Schaffens, aber sie müssen durch die Angehörigen und die Freunde, durch Kenner und Bewunderer in den Strom des Lebens eingebracht werden. Erinnerungskultur ist kein sanftes Ruhekissen, sondern Denkarbeit und Gestaltungsimagination.
Nehmen wir beispielsweise Georgs Kompetenz und Passion für alles, was eine archäologische Dimension hat. Über das klassische Altertum, über die Baukultur der verschiedenen Weltreligionen, über das sogenannte «Weltkulturerbe» hat er uns so viel an Materialien hinterlassen, dass man geradezu einen Hundert-Jahre-Plan entwickeln könnte, wie man diesen Reichtum an «lebendigem Wissen» in das Denkvermögen und das Erinnerungspotential der Zukunft einbringen müsste.
Ich bin nicht unglücklich darüber, dass Museumspädagogik inzwischen auch bei uns zu einem ernst genommenen Fach geworden ist, wo junge Menschen auf eine Spurensuche nach verblichenem Glanz und verschwundener Grösse geschickt werden. Ja dass gerade archäologische Funde und Fakten zu einer Imaginationsquelle erster Güte für geistes- und naturwissenschaftlich orientierte junge Menschen werden können. Soviel ich weiss, war bei Georg Gerster der künstlerische Eros zwar immer grösser als sein pädagogischer Eros.
Lehrer wollte er – soweit mir bekannt ist – nie werden, obwohl ihm die intelligente Vermittlung seiner historischen und ästhetischen Passionen nicht unwichtig war.
Die Welt war für Georg in allen ihren Aspekten «Kosmos» – das hiess für die Griechen: das, was schön, sinnvoll und staunenerregend angeordnet ist. Das konnte für das gesamte Weltall gelten, in spezifischer Weise aber auch für unseren Planeten in seinen so faszinierenden wie erschütternden Aspekten. Wir feiern gerade Alexander von Humboldts 250. Geburtstag. Sein grosses Lebenswerk nannte dieser Gelehrte und Forscher «Kosmos». Dazu schrieb er einmal: «Möge die unermessliche Verschiedenartigkeit der Elemente, die in ein Naturbild sich zusammendrängen, dem harmonischen Eindruck von Ruhe und Einheit nicht schaden, welche der letzte Zweck einer jeden literarischen oder künstlerischen Komposition ist.»
Auch Georg Gerster hat einen solchen welteröffnenden Kosmos geschaffen. Dafür sind wir ihm unendlich dankbar.
Nehmen Sie es mir nicht übel, wenn ich noch einen anderen «kosmischen Aspekt» von Georg erwähne. Er war kosmisch auch in seiner Liebe zu den Gütern dieser Erde. Er war ein herausragender Koch und Gastgeber, ein Bierkenner und Weinliebhaber. Er liebte es über alles, seine Freunde um einen Tisch zu versammeln und diese köstlichst zu bewirten. Etwas Kosmisches war gewiss auch dabei, wenn man sich im Freundeskreis in der Geeren um eine Schlachtplatte mit anschliessendem Mount-Everest-Dessert versammelte oder in einem feinen Lokal des Zürcher Unterlandes zu frischem Spargel und Beinschinken traf.
Lieber Georg, sei vor allem dafür bedankt, dass Du uns vorgelebt hast, wie man die Schönheit irdischen Daseins entdecken und lieben kann – die Schönheit der Menschen mit eingeschlossen. Deine Freunde jedenfalls möchten auch in Deinem dritten Leben Dir möglichst nahe bleiben.