Noch immer lehren unsere Universitäten «Wachstum gleich Wohlstand». Brauchen wir eine Alternative dazu? Sie existiert seit 10 Jahren: die Donut-Ökonomie («Doughnut Economics»). Die Erfinderin der Donut-Ökonomie wird auch als John Maynard Keynes des 21. Jahrhunderts betitelt: Kate Raworth* heisst die britische Wirtschaftswissenschaftlerin, die in Oxford und Cambridge lehrt. Der Donut visualisiert den Handlungsspielraum für die Wirtschaft, der nicht überschritten werden darf. Ihre Theorie fokussiert auf planetare (Klimawandel, Verlust der Artenvielfalt) und soziale (Gesundheit, Bildung) Grenzen.
Dies zum Unterschied zur herkömmlichen Zielvorgabe des (ewigen) Wachstums des Bruttoinlandprodukt (BIP) in der traditionellen Wirtschaft.
Mehr Nachhaltigkeit und Schonung der Ressourcen
Amsterdam gilt als Pionierstadt der Donut-Ökonomie. Hier wird seit 2020 daran gearbeitet, die Energiegewinnung ab 2030 zu 50 Prozent und ab 2050 zu 100 Prozent auf Solarstrom und Windkraft umzustellen und damit den CO2-Ausstoss entscheidend zu senken. Das heisst zum Beispiel, dass nur noch recycelte Rohstoffe zum Einsatz kommen sollen – damit die Kreislaufwirtschaft Tatsache werden kann.
Szenenbeobachter fragen sich: «Brauchen wir ein neues Wirtschaftssystem, in welches die Natur eingebettet ist und das den Menschen und der Ökologie mehr Beachtung schenkt?» («Globalance»). Galt einst das Bruttoinlandsprodukt als alleiniger Massstab, um den Gesamtwert aller Waren und Dienstleistungen zu beziffern, die während eines Jahres (nach Abzug aller Vorleistungen) innerhalb der Landesgrenzen einer Volkswirtschaft als Endprodukte hergestellt wurden, so suchen wir heute eine notwendige Ergänzung, die den Menschen und der Ökologie mehr Beachtung schenkt. Ein System, das auch die negativen Externalitäten berücksichtigt? Also den CO2-Ausstoss, Umweltverschmutzung, Gesundheitsvorsorge, Lebensqualität und soziale Aspekte?
Hinter der Donut-Ökonomie steckt also die Idee, wegzukommen vom gewohnten Maximierungsverhalten und dafür ein Wirtschaftswachstum anzustreben, das auch die tatsächlichen Bedürfnisse der Menschen umfasst.
Kompass für die Zukunft
Wenn wir uns den Donut vorstellen – also eine runde Kugel –, so unterscheidet Raworth eine innere Mindestgrenze, die das gesellschaftliche Fundament bildet. Hunger und Armut gilt es zu verhindern, Zugang für alle zu einem intakten Gesundheits- und funktionierenden Bildungswesen sind gewährleistet. Ein sicherer, gerechter und menschenwürdiger Lebensraum.
Der äussere Rand symbolisiert die Begrenzung der Ressourcenkapazitäten der Erde, die uns Menschen so weit bringen sollte, das ökologische Handeln auf ein gesundes, verträgliches Mass zu beschränken. Der Donut (das Ganze) symbolisiert das Gleichgewicht von Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Ökologie. (Zum Vergleich: Definition von Glaskugel auf glaskugel-gesellschaft.ch).
Viele bezeichnen deshalb die Donut-Ökonomie als «Kompass für die Zukunft».
Holländische Donuts
Wie weiter oben erwähnt, hat sich Amsterdam dazu entschieden, diesem Donut-Modell eine Chance zu geben und eine soziale Kreislaufwirtschaft anzustreben. Somit lautet die Devise in der fortschrittlichen Grachtenstadt: Recyceln, reparieren und teilen – Wiederverwertung statt Neuproduktion, Reparatur statt Wegwerfmentalität und «Sharing»-Konzept zum Beispiel im alltäglichen Umgang mit dem PW.
Eine Stadt ohne Abfall heisst ein bewusster Verzicht auf «Zwangsroutine». «Man hat es doch immer so gemacht», diese eingeschliffene Ausrede, ist Vergangenheit. Ein ermutigendes Beispiel: Ab nächstem Jahr werden Neubauten, ab 2025 Renovierungen der öffentlichen Infrastruktur zirkulär durchgeführt. Biobasierte Baustoffe sollen eingesetzt werden – wir erinnern uns: Die Zementherstellung ist einer der emissionsintensivsten Industrieprozesse und verursacht 8% der globalen Treibhausgasemissionen.
Gefahr des Nullwachstums
Wie immer, wenn bahnbrechende neue Ideen und Konzepte entwickelt werden, ist die Gilde der Skeptiker gross. In diesem Fall befürchten viele Ökonomen ein Nullwachstum – in der heutigen Wirtschaft keine Option, denn ohne Wachstum sehen sie Arbeitsplätze, Umsätze und sogar den Sozialstaat gefährdet. Tatsächlich ist der Übergang zu einem neuen Wirtschaftssystem mit vielen Risiken verbunden, das sei nicht verheimlicht. Das heisst jedoch noch lange nicht, dass man unser aktuelles, auf maximales Wachstum basierendes System als alternativlos betrachten muss. Jemand muss beginnen …
Denn, darin sind sich eigentlich alle einig: Es muss etwas geschehen in Sachen Klimaerwärmung; Die Umwelt muss mit Preisschildern versehen werden – sie darf nicht mehr gratis sein. Diskutiert werden viele Massnahmen (Konsumsteuer, Lenkungsabgaben, Begrenzung der Emissionen usw.). Noch bleiben zu viele dieser Ideen in der Planungsphase stecken, in der Schweiz verhindern zum Beispiel Volksabstimmungen deren Realisation (CO2-Gesetz).
Das kapitalistische Zwangswachstumssystem
Mathias Binswanger (*1962), Ökonom, Professor für Volkswirtschaftslehre, befasst sich seit Jahren mit dem Zwiespalt zwischen herkömmlichen Wachstumstheorien und alternativen Konzepten. Er macht sich keine Illusionen: «Wir leben nun mal in einem kapitalistischen Wirtschaftssystem, das zum Funktionieren Gewinne erzielen muss, damit es nicht in eine Abwärtsspirale gerät» (Globalance: «Der Zukunftsbeweger – Perspektivenwechsel»). Doch heute sehen wir die Schattenseiten dieses Wachstumszwangs – ein erster Schritt wäre, eine Entwicklung Richtung Mässigung des Wirtschaftswachstums einzuleiten.
Binswanger schlägt vor, den Studierenden aufzuzeigen, wo das Problem liegt. «Erst wenn diese das Dilemma zwischen Wachstum und Umweltschäden kapiert haben, kann man zur Problemlösung schreiten.»
Der Perspektivenwechsel
Kein Zweifel, wir leben in einer hektischen, neuen Welt, akzentuiert noch durch eine Ukrainekrise, die verunsichert. Diese Welt ist in grossem und raschem Wandel begriffen. Was heisst das für uns? Wir müssen bereit sein, Altes (Überholtes, aus der Zeit Gefallenes) zu entsorgen und mutig Neues auszuprobieren. Der Fokus muss auf die Zukunft gerichtet sein, wir müssen bereit sein, neue und andere Sichtweisen zuzulassen. Kate Raworth arbeitet daran. Das von ihr entwickelte Donut-Ökonomiemodell ist ihr Versuchsfeld – ein notwendiges und vielversprechendes.
«Persönlicher Perspektivenwechsel ist eine faszinierende und spannende Erfahrung. Ab und zu den eigenen Standpunkt zu wechseln, drei Schritte zurück oder zur Seite zu treten, etwas neu sehen zu wollen, ist das Abenteuer der Stunde – Türöffner zur erfolgreichen Bewältigung der persönlichen und gesellschaftlichen Zukunft.»**
*Kate Raworth: «Doughnut Economics: Seven Ways to Think Like a 21st-Century Economist» (2017), auf Deutsch: «Die Donut-Ökonomie: Endlich ein Wirtschaftsmodell, das den Planeten nicht zerstört» (2018), Hanser
**Christoph Zollinger: «PERSPEKTIVENWECHSEL. Fokus Zukunft» (2017), Conzett Verlag