„Deutscher-Sein enthielt kein Bekenntnis wie Engländer- oder Franzose-Sein; es besagte keinen Dienst an übernationalen Idealen ... Deutscher-Sein war und ist einfach Ausdruck einer Wirklichkeit.“ So beschrieb der Philosoph und Soziologe Helmuth Plessner 1959 die „verspätete Nation“. Dieses Buch galt damals unter den kritischen Intellektuellen als die wichtigste Diagnose der spezifisch deutschen Unfähigkeit, ein friedliches Leben inmitten der Völker Europas zu führen.
„Verspätet“ waren die Deutschen, weil sie später als Frankreich und England die Schritte zur Staatenbildung im grossen Stil, zur modernen Gesellschaft und zur Demokratie gegangen waren. Kein geringerer als Thomas Mann hatte noch während des Ersten Weltkriegs in seinen „Betrachtungen eines Unpolitischen“ in immer neuen Anläufen den Versuch unternommen, das deutsche Wesen aus dem Gegensatz zur blossen „Zivilisation“ heraus zu verstehen.
Der Mangel an einer übergreifenden politischen Idee auf dem Niveau der modernen Verfassungen wurde für das zweimalige Abgleiten Deutschlands in die „Barbarei“ der beiden Weltkriege verantwortlich gemacht. Das erste Mal mussten die Deutschen zur Strafe Reparationen in ruinöser Grössenordnung zahlen, das zweite Mal wurden sie geteilt, wobei nur der Osten Deutschlands nachhaltig zur Kasse gebeten wurde. Westdeutschland kam glimpflich davon, denn im Zusammenhang mit dem Korea-Krieg und der beginnenden aggressiven Rivalität des Westens mit dem Osten wurde die Bundesrepublik insbesondere von den USA dringend gebraucht.
Die demokratischen Parteien in der Bundesrepublik akzeptierten nach und nach die neuen Grenzen im Osten, was nicht ohne heftige innere Kämpfe abging. Diese fanden in den Auseinandersetzungen um die Ostverträge von 1970 bis 1973 ihren Höhepunkt, aber auch ihren Abschluss. Innerhalb der SPD tat man sich leichter mit der Akzeptanz kommunistischer Regime und trachtete nach „einem Wandel durch Annäherung“, wie es unnachahmlich Egon Bahr, der damalige Leiter des Presse- und Informationsamtes des Landes Berlins und Sprecher des Regierenden Bürgermeisters Willi Brandt, am 15. Juli 1963 in der Evangelischen Akademie Tutzing formuliert hatte. Für die Linken wurde diese Formulierung mehr mit mehr zur Leitschnur, so dass aufkeimende Protestbewegungen wie die Solidarność in Polen, aber auch Bürgerrechtler in der ehemaligen DDR von Teilen der SPD im Regen stehen gelassen wurden. Man wollte keine Störenfriede.
Die Gunst der Stunde
Ende der 80er Jahre löste die sogenannte NATO-Nachrüstung mit neuen Mittelstreckenraketen heftigste Proteste und Demonstrationen aus. Die Friedensbewegung fürchtete, dass der Warschauer Pakt sich provoziert fühlen und mit einem Angriff reagieren würde. Heute ist gut belegt, dass es diesbezüglich sehr reale Absichten und Planungen gab – allerdings unabhängig von der Nachrüstung. Was aber kein Politologe, Soziologe an den Universitäten oder andere politische Beobachter in den europäischen Instituten der Regierungen und Parteien vorhergesehen haben, war die Implosion des Ostens mit der schlagartigen Option der Wiedervereinigung Deutschlands.
Helmut Kohl, sein Aussenminister Hans-Dietrich Genscher und andere Mitstreiter wie Vize-Kanzleramtschef Horst Teltschik haben die Gunst der Stunde erkannt und in einer Weise kaltblütig genutzt, wie man es insbesondere Helmut Kohl nicht zugetraut hätte. Bisher geheim gehaltene Dokumente, die das Auswärtige Amt in diesen Wochen dem SPIEGEL zur Einsicht freigegeben hat, enthalten zwar keine grundlegend neuen Einsichten, aber aufschlussreiche Details. Sie zeigen den vermeintlich täppischen Pfälzer, der sich jahrelang als „Birne“ den Spott der Karikaturisten und den Hohn der Intellektuellen zugezogen hatte, als einen weitsichtigen Politiker, der kalkuliert die engsten Verbündeten brüskierte und austrickste, sich insbesondere die damaligen Fehleinschätzungen bzw. Fehlleistungen Gorbatschows zu Nutze machte und im Alleingang – also ausdrücklich ohne seinen Aussenminister und ohne vorbereitende Information der USA und der NATO-Partner – am 28. November 1989 einen Plan für die Wiedervereinigung, das Zehn- Punkte-Programm, im Bundestag vorstellte. Das hätte auch schief gehen können.
Das enge Zeitfender
Im Abstand von zwanzig Jahren verfestigt sich der Eindruck, dass die Entwicklungen im Osten – herausragend der Fall der Mauer am 9. November 1989 – im deutschen Regierungslager ungeahnte Energien freigesetzt haben. Entsprechend entschieden und präzise waren die Schritte: am 2. Mai 1990 Einführung der D-Mark 1:1, Einigungsvertrag und am 3. Oktober 1990 Beitritt der „neuen Länder“, danach Privatisierung aller Betriebe der ehemaligen DDR. Und nicht zu vergessen: Zustimmung zur raschen Einführung des EURO, um mit der Eingebundenheit in die Europäische Gemeinschaft Befürchtungen bezüglich eines erneuten "deutschen Sonderweges" restlos auszuräumen. Das waren Wegmarken, die in Ost und West zahlreiche Kritiker auf den Plan gerufen haben. Bis heute wird gefragt, ob es nicht schonendere Methoden gegeben hätte. Musste alles, was in der ehemaligen DDR entstanden war, grundsätzlich als minderwertig aussortiert werden? Das Einzige, was die Bundesrepublik als Besonderheit aus der ehemaligen DDR übernommen hat, sind grüne Rechtsabbiegerpfeile an Ampeln, die das Rechtsabbiegen auch bei Rot – natürlich unter Beachtung der Vorfahrt – ermöglichen. Daran konnten die Westdeutschen sich aber nur schwer gewöhnen.
Gerade aus dem Abstand zeigt sich, dass die Schnelligkeit, ja geradezu die Rücksichtslosigkeit des Vorgehens das einzig Richtige war. Das „Zeitfenster“, so sagte es jetzt auch die damalige Osteuropa-Beraterin von George H. W. Bush, Condoleezza Rice, stand tatsächlich nur für kurze Zeit offen.
Wiedervereinigung als Mahnung
Hat die „verspätete Nation“ mit der Wiedervereinigung ihre Verspätung eingeholt? Ist sie also auf dem gleichen staatspolitischen Level wie die massgeblichen europäischen Nachbarn angekommen? Das Besondere an Deutschland besteht darin, dass das Lernen aus der Vergangenheit zur Staatsraison geworden ist. Dass sich traumatische Geschichte nicht wiederholen dürfe, mag eine Phrase sein, aber in Deutschland verbinden sich damit ein tiefes Empfinden und eine hohe Sensibilität. Deswegen werden Rechtsradikale hier mit ganz besonderem Argwohn betrachtet. Die Vergangenheit ist in Deutschland gerade nach der Wiedervereinigung als Mahnung ganz besonders gegenwärtig. Sicherlich gibt es zwischen den Generationen Unterschiede, aber gerade die starken Emotionen, die bei den Älteren durch die Wiedervereinigung ausgelöst wurden, wirken stärker als gebaute Mahnmale.
Deswegen ist Deutschland auch der bisweilen verspielte Zynismus Frankreichs oder Italiens in Bezug auf Rechtsstaatlichkeit und sozialer Gerechtigkeit fremd. Und eine „Eiserne Lady“ hätte auch wenig Chancen, weil trotz des Neoliberalismus immer noch eine schwache Erinnerung an den „rheinischen Kapitalismus“ mit seiner sozialen Selbstverpflichtung zu spüren ist.
Doch es bleibt eine Besonderheit. Die Mentalitäten der Menschen aus der ehemaligen DDR und der Bundesrepublik unterscheiden sich bis heute spürbar. Die ehemals Ostdeutschen sind direkter, unverstellter, wenn man so will: naiver. Anders als die Westdeutschen beherrschen sie nicht das, was George Orwell in seinem Roman „1984“ als „Doublethink“ und „Doubletalk“ bezeichnet hat. Eigentlich würde man es umgekehrt erwarten.