Kuwait war der erste unter den Erdölstaaten am Persischen Golf, der 1963 eine Verfassung und echte Wahlen für ein Parlament einführte. Jahrzehnte lang galt der Kleinstaat seinen eigenen Bürgern als eine Musterdemokratie. Die Kuwaiti glaubten, ihr Modell sei vorbildlich für alle arabischen Golfstaaten, vielleicht sogar für den grossen Vetter, Saudi Arabien, weil ihre Verfassung "Demokratie und Emirat" zu vereinen verstand. Doch von 2006 an ist die kuwaitische Demokratie zunehmend in eine innere Krise geraten. Die Widersprüche zwischen dem Herrschaftsanspruch der Herrscherfamilie, Al Sabah, und der gewählten Versammlung werden zunehmend schärfer.
Parlamentarier mit wenig Macht
Die Verfassung des Landes sieht wenig Vollmachten für das gewählte Parlament vor. Es kann Gesetze verabschieden, die der Herrscher bewilligen oder zurückweisen kann. Der Herrscher, nicht die Mehrheit der Abgeordneten, hat das Recht, den Ministerpräsidenten zu ernennen. Der Herrscher besetzt auch zahlreiche Spitzenpositionen in der Verwaltung und in der staatlichen Industrie.
In der Praxis haben alle Herrscher immer Personen aus der eigenen Familie zu Ministerpräsidenten berufen. Die Ministerpräsidenten ernennen ihre Minister, wobei die wichtigen Ministerien, Aussenpolitik, Finanz, Innenpolitik, Verteidigung und manchmal noch andere mehr, ebenfalls an enge Verwandte des Herrschers gehen. Oft war der Kronprinz Ministerpräsident, und seine Onkel, Brüder des Herrschers, leiteten die Hauptministerien. Wenn der Kronprinz zu jung war, übernahm einer der Onkel die Leitung der Regierung.
Den Abgeordneten blieb in der Praxis nur ein uneingeschränktes Recht: das, die Minister im Parlament zu befragen. Lange Jahre hindurch bestand eine stillschweigende Konvention, nach welcher die Abgeordneten zwar die minderen Minister, die nicht zu Herrscherhaus gehörten, Rede und Antwort stehen liessen. Die Hauptminister aber, die zur Herrscherfamilie zählten, wurden nicht befragt.
"Geschenke" des Herrschers
Diese Konvention beruhte auf der Geschichte und Entwicklung des Erdölstaates. Das Erdöleinkommen galt ursprünglich als Einkommen des Herrschers und seiner Familie. Die Al Sabah war aber sehr liberal und gab von Beginn an grosse Summen dieses Einkommens zum Wohl der Kuwaiter aus. Die Erdölgelder begannen 1952 zu fliessen. Gratis Spitäler und Schulen, dann Wasserversorgung, Strassenbau und vieles mehr waren die ersten "Geschenke", welche der Herrscher der Kuwaiter Bevölkerung auf Grund seines Erdöleinkommens bescherte.
Die damals noch sehr arme Bevölkerung war dankbar. Ein Zeichen dieser Dankbarkeit war, dass es undenkbar schien, den Herrscher und seine Familie anzugreifen oder zu kritisieren.
"Unser" Erdöleinkommen
Doch über die Jahrzehnte hinweg entstand eine andere Sicht der wirtschaftlichen und sozialen Gesamtlage. Die kuwaiter Bürger sind heute überzeugt davon, dass das Erdöleinkommen der Gemeinschaft gehört.
Allerdings besteht immer noch eine enge Umschreibung dieser Gemeinschaft. Es gibt in Kuwait die "Bedoun"; das sind die "Ohne". Sie sind ohne kuwaitische Identitätskarte und damit ohne kuwaiter Bürgerrechte. Dies sind ganze Stämme, manche lebten in der Wüste, fern von der Hafenstadt, deren Vorväter damals, als die ersten Identitätskarten ausgegeben wurden, nicht einsahen, wozu sie solche Papiere brauchten. Sie verlangten sie nicht und sie, sowie ihre sämtlichen Nachfahren, blieben in der Folge ausgeschlossen von der Kuwaiter Nationalität. Sie sind staatenlos, und haben auch keine Anrechte auf die Vergünstigungen, die Kuwaiter Bürger geniessen. Sie leben bis heute in Slums, und sie gelten als ein Sozialproblem, das bisher ungelöst blieb..
Langsames Wachstum der Opposition
Über die Jahrzehnte hinweg haben die gewählten Abgeordneten in Kuwait eine "Opposition" entwickelt. Anfänglich waren es nur eine kleine Minderheit von "progressiv" eingestellten, reformwilligen Parlamentariern, die man heute die "Liberalen" nennt. Im Parlament konnten sie nur eines bewirken. Sie konnten Minister zur Rede stellen, von denen vermutet wurde, sie seien korrupt, oder sie hätten schwere Fehler in ihrer Amtsführung begangen.
Die Abgeordneten entwickelten dabei einen Stil von überaus scharfen Verhören. Dies war toleriert, weil die Ausgefragten ja nie Mitglieder des Herrscherhauses waren.
Der Schock der irakischen Invasion
Die Opposition nahm allmählich zu. Der Schock der irakischen Invasion und Besetzung vom Sommer 1990 half mit, die bestehenden Konventionen zu lockern. Der Aufstieg der neuen Ideologie des islamischen Fundamentalismus ergab etwas wie die Entwicklung einer "islamistischen Partei", obwohl in Kuwait politische Parteien verboten sind. Die Ideologie des Islamismus wurde zu einem Kitt, der Gruppen zusammenfügte, wo es bisher nur Stammes-, Verwandtschafts- und Klientelgruppierungen gegeben hatte. Das Vorbild des arabischen Frühlings in vielen der Bruderländer wirkte sich ebenfalls aus.
Wachstum der Islamisten
Die Oppositionen in den Parlamenten nach 2003, die nach den Wirren der irakischen Invasion gewählt wurden, waren Minderheiten aus Liberalen, Reformwilligen und Islamisten, die sich zu losen Allianzen zusammenfanden. Doch die Islamisten, die einen "islamischeren" Staat begehrten, nahmen in diesen Oppositionskreisen immer zu. Heute dominieren sie die Opposition. Gleichzeitig wuchsen mit dem steigenden Reichtum die Finanz- und Korruptionsskandale. Es gab reichlich Gelegenheit, den Ministern Fragen zu stellen, auch solche recht aggressiver Natur.
Ein Sabah auf dem heissen Stuhl?
Die "oppositionellen" Parlamentsmehrheiten begannen darauf zu bestehen, dass sie auch Minister aus dem Herrscherhaus befragen wollten. Doch dies ist und bleibt vorläufig eine rote Linie für die Al Sabah. Lieber als einen der Ihren befragen zu lassen, "grilling" sagen die Kuwaiter nach britischem Vorbild, das heisst "rösten", tritt die ganze Regierung zurück.
Wenn dies geschieht, ist der Herrscher frei, eine neue Regierung zu ernennen oder das Parlament aufzulösen. Er tut oft das erste zuerst, doch wenn die Spannungen nicht abnehmen, schreibt er neue Wahlen aus.
Aufgelöst, neu gewählt, aufgelöst.
Neuwahlen gab es seit 2006 vier mal, 2006, 2008, 2009, 2012. Jedes Mal gewann die Opposition mehr Stimmen, und jedes Mal wuchs der Anteil der islamistischen Abgeordneten an der gesamten Oppositionsfront. Die Opposition machte schon 2006 zwei Drittel der gewählten Abgeordneten aus, doch damals war sie noch bunt zusammengesetzt aus Liberalen, Reformern und Islamisten. Seither haben die Liberalen Sitze verloren und die Islamisten gewannen sie.
Weil es keine Parteien gibt, ist die Klassifikation der Gewählten nicht immer eindeutig. Nach den Wahlen von Februar 2012 galten 34 der 50 gewählten Abgeordneten als oppositionell; 9 von ihnen wurden als "Liberale" eingestuft, 14 als Islamisten und 20 als Islamisten mit Stammesverbindungen.Einer der Oppositionellen scheint nicht klassifizierbar gewesen zu sein.
Islamisten und Stammeshonoratioren
Die 20 erwähnten "Stammes-Islamisten" wurden sowohl wegen ihrer islamistischen Überzeugungen wie auch wegen ihrer Zugehörigkeit und Führungspositionen in einem der Stämme gewählt. Im Parlament sitzen auch die Minister, Leute der Regierung natürlich, nicht der Opposition. Sie sind 15, von ihnen ist nur einer gewählt, die anderen sind ernannt. Doch alle 15 stimmen mit bei Abstimmungen im Parlament. Mit der Regierung stimmen auch regelmässig die Vertreter der Minderheiten, was in erster Linie Schiiten sein dürften. Sie fürchten sich vor den sunnitischen Islamisten und suchen Schutz bei der Macht der Herrscherfamilie. Von diesen gab es 6 im letzten Parlament.
Ein Veto des Herrschers
Im vergangenen Mai hatte sich das derart zusammengesetzte Parlament mehrheitlich für eine Bestimmung ausgesprochen, die festlegen sollte, dass alle Gesetze Kuwaits auf der Schari'a zu beruhen hätten. Der Herrscher schritt ein und lehnte diese Bestimmung ab.
Zu den Streitfragen, über welche die Regierung "gegrillt" werden sollte, und die stattdessen zu Rücktritten der Regierungen und später zu Parlamentsauflösungen führten, gehörte der von der Opposition geäusserte Verdacht, die Regierung bezahle hohe Geldsummen an die Minderheit der Abgeordneten, die bereit seien, für sie zu stimmen. Fragen darüber sollten an den Ministerpräsidenten gerichtet werden. Doch dieser und die Regierung zogen es vor, sich den Parlamentariern nicht zu stellen und stattdessen zurückzutreten.
Ein Eingriff des Verfassungsgerichtes
Das Parlament von Februar 2012 wurde im Juni entlassen, für einmal nicht auf Grund einer Anordnung des Herrschers sondern auf Grund eines Urteils des Verfassungsgerichts, das beschloss, das Wahlgesetz, nach dem es gewählt worden war, sei verfassungswidrig.
Am 23. September gab das Verfassungsgericht ein weiteres Urteil ab. Es erklärte, der Plan der Regierung, ein neues Wahlgesetz aufzustellen, sei ebenfalls verfassungswidrig, und es bestimmte das Wahlgesetz von 2006 als das gültige.
Gegen das Wahlgesetz der Regierung
Dieses Urteil kam zustande, nachdem Tausende von Sympathisanten der Opposition, vor allem Islamisten, vor dem Parlament demonstriert und gegen den Plan der Regierung, ein neues Wahlgesetz zu erlassen, heftig protestiert hatten. Sie befürchteten, die Regierung würde ein Wahlgesetz mit neuen Wahlkreisen erlassen, deren Grenzen derart gezogen würden, dass sie ihre Wahlchancen schädigten. Weil die Stämme wichtige soziologische Gruppierungen sind, deren Solidarität oft einen Wahlausgang bestimmt, und weil diese Stämme in bestimmten Vorstädten und Vorstadtquartieren zusammenleben, ist die Frage der Wahlkreise von grossem Gewicht.
Es ist durchaus denkbar, dass in der Tat die Regierung und das Regime versuchten, auf diesem Weg aus der Zwickmühle zu entkommen, in die sie durch die immer zunehmenden Mehrheiten der Opposition im Parlament geraten sind. Dieser Plan, falls es wirklich einen solchen gab, hat nun nicht funktioniert, und der Herrscher wird entscheiden, ob das Parlament von 2006 wieder zusammentritt, oder ob Neuwahlen stattfinden werden, die sich nach dem Wahlgesetz von 2006 abspielen.
Das Ringen geht weiter
Die Opposition fordert laut Neuwahlen. Was zeigt, dass sie damit rechnet, in solchen noch besser abzuschneiden, als sie es bereits im Jahre 2006 getan hatte. Damals wurden zwei Drittel der Gewählten als "der Opposition zugehörig" angesehen.
Der Ton, in dem sich diese Machtringen im Kuwaiter Parlament abspielen, ist sehr gehässig und stark persönlich gefärbt. Viele Beobachter sind sich darüber einig, dass das Dauerseilziehen im Parlament zu einer gewissen Stagnation des wirtschaftlichen und kulturellen Lebens des reichen Kleinstaates geführt hat. Die Abgeordneten streiten sich mit der Regierung. Kuwait produziert während dem 350 000 Absolventen der Oberschulen im Jahr. Von ihnen finden höchstens ein Drittel Arbeitsposten. Fast alle Arbeitsplätze, die für sie in Frage kommen, sind Staatsstellen. Als Arbeiter werden Ausländer eingestellt.
Wachsende Vertrauenskrise
"Wir könnten so erfolgreich sein wie Dubai," kann man hören, "aber wir sind es nicht, weil wir uns dauernd streiten". Die Kluft zwischen Islamisten und säkularistischen Technokraten im Dienst der Herrscherfamilie, die das Land noch weiter "modernisieren" wollen, ist nicht nur ideologischer sondern auch sozialer Natur. Es sind in erster Linie die einfachen Leute, die den Islamisten Gehör schenken. Ihr Vertrauen auf die Herrscherfamilie und ihre Führung des Staates hat über die Jahre hinweg immer weiter abgenommen. Man erfährt unter der Hand zu viel von angeblicher Korruption und Verschwendung, ohne dass Transparenz geschaffen würde. Die Islamisten profitieren davon.