Im kriegszerrütteten Jemen wurde am 10. April der erste Fall einer Infektion mit dem neuartigen Coronavirus gemeldet. Berichtet wurde eine Erkrankung in der Hafenstadt ash-Shihr in der südjemenitischen Provinz Hadramaut, die unter der Kontrolle von Milizionären steht, die Abd Rabbuh Mansur Hadi als Präsidenten des Landes treu ergeben sind. Dies verstärkt die Befürchtung, dass nun nach der Cholera der Ausbruch der Covid-19-Epidemie in Jemen, dessen Gesundheitssystem durch den Krieg am Boden liegt, unmittelbar bevorsteht.
Hektische Verhandlungen, um Zeit zu gewinnen
Tags zuvor hatte Saudi-Arabien, das die Allianz gegen das Huthi-Regime im Norden des Landes anführt, nach verstärkten Bombardements plötzlich einen einseitigen Waffenstillstand in Jemen ausgerufen, der zunächst auf zwei Wochen angelegt ist. Das Regime in Sanaa, das dem Kommando der «Helfer Gottes» (ansar Allah), also den Huthi, unterstellt ist, reagierte bislang uneinheitlich auf diesen Entscheid, mal ablehnend, mal zurückhaltend, mal positiv und verbreitet bisweilen sogar Optimismus.
«Die Coronavirus-Pandemie könnte der Schlüssel zum Frieden in Jemen werden», hiess es am 10. April in einer Stellungnahme der Huthi. Tatsächlich begründete Saudi-Arabien den unilateralen Schritt mit dem Ansinnen, die Ausbreitung des Coronavirus in dem vom Krieg zerrütteten Land einzudämmen, so die staatliche saudische Presseagentur (SPA). In den kommenden zwei Wochen sollen, so die Hoffnung der saudi-arabischen Führung, in Riyad Gespräche zwischen der Regierung der ansar Allah in Sanaa und der Hadi-Regierung in Aden ermöglicht werden. Strategisches Ziel sei es, die Konfliktregulierung ganz den Vereinten Nationen zu überlassen, so dass sich Saudi-Arabien ohne Gesichtsverlust aus dem Krieg zurückziehen könnte. Saudi-Arabien nutzte so das Momentum, das ihm der Aufruf der UN zu einer Feuerpause in Jemen angesichts der drohenden Coronavirus-Epidemie zu bieten schien. Diese Initiative hing wohl auch mit einem Friedensvorschlag der Regierung in Sanaa vom 7. April zusammen, in dem alle jemenitschen Parteien zu einem politischen Dialog in einer längeren Übergangszeit aufgerufen wurden. Offenbar sind auch die Huthi kriegsmüde geworden.
Uneinheitliche Huthi
Allerdings ist das innenpolitische Regime der ansar Allah, des Obersten politischen Rats unter Mahdi Muhammad al-Mashāt, keineswegs auf eine gemeinsame Linie eingeschworen. Auf der einen Seite gibt es die Exekutivgewalt des Obersten politischen Rats unter der Führung von al-Mashāt, auf der anderen Seite sind die zayditischen anasar Allah unter der Führung der Huthi-Familie, als einer deren Oberhäupter der 50-jährige ʿAbd al-Malik Badr ad-Din al-Huthi gilt. Dessen Cousin, Muhammad ʿAli al-Huthi, war Führer des Obersten Revolutionskomitees, das nach der Eroberung von Sanaa durch die Huthi gegründet und das 2016 dem Obersten politischen Rat eingegliedert worden war. Muhammad ʿAli al-Huthi gilt als heimlicher Präsident des Regimes.
Am 24. März hatte al-Mashāt in einer Rede die Freilassung aller politischen Gefangenen gefordert, die als Bahai einsassen und zum Teil zum Tode verurteilt worden waren. Noch am Tage zuvor war das Todesurteil gegen einen prominenten Bahai gerichtlich bestätigt worden. Allerdings verweigert sich die Justiz bislang, der Anordnung al-Mashāts nachzukommen und die Bahais tatsächlich freizulassen. Zudem verurteilte ein Gericht in Sanaa am 11. April vier Journalisten zum Tod, die zusammen mit sechs anderen der «Spionage für den Feind» angeklagt sind. Einige von ihnen sind schon seit fast fünf Jahren im Gefängnis, unter anderem weil sie über Übergriffe der Huthi anlässlich der Eroberung von Sanaa berichtet hatten.
Saudi-Arabien befürchtet das Schlimmste
Die saudi-arabische Führung war wohl auch deshalb zu diesem Schritt motiviert, weil sie in jedem Fall verhindern möchte, in eine unkontrollierbare Epidemie an der Südwestgrenze des Landes hineingezogen zu werden. In Riyad sagt man, dass inzwischen schon 150 Mitglieder der saudischen königlichen Familie infiziert seien. In einem Privatspital sollen schon 500 Betten zur Behandlung von Covid-19-Kranken der Familie eingerichtet worden sein. Der König hat sich in einen Inselpalast in der Nähe der Stadt Jeddah am Roten Meer zurückgezogen, sein Sohn und Kronprinz Muhammad Bin Salman hat als Rückzugsort die Gegend der von ihm geplanten Zukunftsstadt Neom am Roten Meer gewählt, wo er mit mehreren Ministern residiert.
In Saudi-Arabien, so rechnen die Experten, werden im schlechtesten Fall in den nächsten Wochen bis zu 200’000 Menschen infiziert sein. Der erste saudi-arabische Staatsbürger, bei dem am 2. März eine Covid-19-Erkrankung diagnostiziert worden war, war ein Kaufmann, der von einer Geschäftsreise aus Iran nach Riyad zurückgekehrt war. Das lässt natürlich auch in Saudi-Arabien manche Verschwörungstheorien spriessen. Weit gefährlicher kann die Situation aber werden, wenn die vielen Tausend jemenitischen Gastarbeiter im Land Kontakt zu ihren Familien in Jemen halten oder wenn saudi-arabische Soldaten und Söldner aus Jemen nach Hause zurückkehren. Dann könnte es auch für die ältere Herrschaftsgeneration, zu der viele Personen aus den Risikogruppen gehören, kritisch werden. Gerüchten zufolge soll Saudi-Arabien begonnen haben, Jemeniten, darunter auch Infizierte, aus Saudi-Arabien über die Grenze nach Jemen abzuschieben.
Für Saudi-Arabien steht viel auf dem Spiel. Da 85% seiner Exporte Rohöl, Rohölprodukte und chemische Produkte sind, ist seine Ökonomie eng mit dem Rohstoffbedarf in der Weltwirtschaft verkoppelt. Das im Rahmen der weltweiten Rezession erwartete Überangebot von Rohöl ist grösser als all jemals zuvor. Auch in Folge der Beilegung des Preiskriegs zwischen der OPEC und Russland am 9. April muss das Königreich seine Produktion um rund 30 Prozent kappen. Das hat bislang den Preisverfall kaum ausgeglichen. Im Gegenteil, es steht zu erwarten, dass das Überangebot die nächsten Monate bestehen bleiben wird.
Dabei handelt es sich aber nur um die dramatische Zuspitzung einer längeren, andauernden Strukturkrise. Schon von 2012 bis 2017 hatten sich die Exportwerte des Königreichs jährlich um 21% verringert. Auch die Importe waren um jährlich mehr als 8% gesunken. Die Staatsverschuldung stieg von 2% des erwarteten BIP von 2024 auf 41%. Als Saudi-Arabien 2015 in den jemenitischen Krieg eingetreten war, waren die ökonomischen Aussichten schon deutlich getrübt. Muhammad Bin Salman, am 20. Juni 2017 zum Kronprinzen und De-facto-Herrscher ernannt, musste mit einer breiten Restrukturierungs- und Reformpolitik versuchen, das Ruder herumzuwerfen. Dazu schreckte er selbst vor einer Kündigung des saudisch-wahhabitischen Pakts nicht zurück, der die Grundlage der Staatsraison des Königsreichs gebildet hatte.
Die neue Jemen-Politik des Königreichs
Eher zufällig waren die Erdölpreise auf dem Weltmarkt mit dem Machtantritt Bin Salmans im Juni 2017 gestiegen und hatten Mitte Oktober 2018 einen Wert erreicht, der an die goldenen Zeiten der Nullerjahre vor der Finanzkrise erinnerte. Doch just mit Beginn der Coronakrise, die der chinesischen Wirtschaft einen mächtigen Dämpfer verpasste, brachen die Preise ein und erreichten Anfang April einen ersten Tiefpunkt. Der Wertverlust betrug fast 60% gegenüber dem von Dezember 2019. Die optimistischen Wirtschaftsprognosen für das Königreich müssen nun gründlich revidiert werden. Es ist anzunehmen, dass das Bruttoinlandprodukt massiv einbrechen wird; das Pro-Kopf-Einkommen wird sich entsprechend dramatisch verringern.
In dieser Situation braucht das Land eine Lösung für den Jemenkrieg. Vielleicht standen ja die amerikanischen Bemühungen um einen Ausgleich mit den Taliban Pate, als es um den Entwurf einer neuen saudi-arabischen Jemenstrategie ging. Wenn schon die USA mit den Taliban verhandeln und diese zu Gesprächen mit der Regierung in Kabul bewegen konnten, warum sollte etwas Ähnliches nicht auch in Jemen möglich sein? Und ähnlich wie in Afghanistan könnte man da nicht die Huthis für Verhandlungen gewinnen, indem man ihnen internationale Hilfe durch die UN und die internationale Gemeinschaft – unter anderem auch zur Bewältigung der Coronakrise – in Aussicht stellt? Wäre das nicht die Gelegenheit, sich aus allen teuren Verpflichtungen herauszuziehen, die Saudi-Arabien in Jemen eingegangen ist, ohne in den Augen der jemenitischen Verbündeten als treulos und unehrenhaft zu gelten?
Und die Huthi?
Vieles wird davon abhängen, wie das Regime der ansar Allah, also der Huthi-geführten Partei in Nordjemen, auf den Waffenstillstand reagieren wird. Propagandistisch reden sie so, wie auch die Taliban in Afghanistan auf Waffenstillstandsangebote reagierten: martialisch werden Angebote auf einen Waffenstillstand zurückgewiesen, solange noch die «US-gestützte saudi-arabischen Agression» andauere. Und Teil der Aggression sei auch das Coronavirus: Muhammad ʿAli al-Huthi im Obersten politischen Rat war sich sicher, «dass Hadhramaut und seine Söhne von der amerikanisch-saudischen und emiratischen Aggression und ihren Verbündeten sowie dem gesamten Jemen als Ganzes angegriffen werden». Für das Regime in Sanaa ist die Aufhebung der Blockade unbedingter Bestandteil eines Waffenstillstands; ihrer Meinung nach seien die Schäden durch die Blockade grösser als alle bisherigen Kriegsschäden. Zudem müssten, so ein Vertreter der Huthi in der Exekutive, ein mögliches Abkommen einem Referendum unterstellt werden.
Hinter der Hand aber werden die Gespräche mit den beiden Regierungen im Süden, der Hadis und der der südjemenitischen Separatisten vorbereitet, und auch die Huthis werden bemüht sein, nichts zu unternehmen, was einen möglichen Waffenstillstand auf Dauer verhindern könnte. Denn auch sie wurden von der Coronakrise kalt erwischt: Die nordjemenitische Armee war drauf und dran, das wirtschaftliche Zentrum im Norden, den Dschauf und die Stadt Ma᾽rib von den dort eher schwach vertretenen Truppen Hadis zurückzuerobern, und alles schien auf eine grössere Schlacht um diese Stadt hinzuweisen. In dem Fall hätte Saudi-Arabien wohl nicht die Hände in den Schoss gelegt und abgewartet. Corona aber zwingt die Huthi zu einer Güterabwägung: die minimale Chance auf eine Begrenzung der Epidemie nutzen und einem Waffenstillstand, der internationale Hilfe zulässt, zustimmen oder den Krieg auf eine Entscheidung im Norden hin vorantreiben, um bei Gesprächen mit Hadis Regierung bessere Karten in der Hand zu haben? Corona hat ein Fait accompli geschaffen. Es zwingt, ähnlich wie in Afghanistan, die Kriegsparteien zu einem politischen Prozess, der vielleicht sogar den langen jemenitischen Krieg einzudämmen in der Lage sein wird. Optimismus wäre also durchaus angebracht, wäre da nicht die Coronakrise selbst, die das Land noch weiter verheeren und in tiefstes Elend stürzen könnte.