Roberto Battaglia betrieb einen Büffelhof in der Provinz Caserta, nördlich von Neapel. Einst hatte er 500 Büffel. Sie lieferten Milch für den Mozzarella di Bufala. Dann kamen Kundschafter der berüchtigten „Casalesi“, einem Zweig der Camorra, der neapolitanischen Mafia. Sie verlangten den „Pizzo“: Schutzgeld.
Zunächst weigerte sich Roberto zu zahlen. Da brannte ein Lieferwagen, ein Traktor. Manchmal lagen tote Büffel im Gehege. Acht Jahre lang liess er sich erpressen. Dann tat er etwas, was die Wenigsten tun: er ging zur Polizei. Die schnappte den Mafioso bei der Geldübergabe. Für Roberto war es eine Befreiung. „Und zugleich ein kleiner Tod“, schreibt Oliver Meiler. Denn jetzt konnte Roberto nur wegziehen. „Die Camorra vergibt nie“, sagte er.
„Nachhaltig unterschätzte“ Mafia
Oliver Meiler, Italien-Korrespondent des Zürcher „Tages-Anzeigers“ und der „Süddeutschen Zeitung“, beschreibt in seinem Buch „Agromafia“ *) den neuen Siegeszug der sizilianischen Cosa Nostra, der kalabresischen ’Ndrangheta und der neapolitanischen Camorra. Die Mafia werde „nachhaltig unterschätzt“, schreibt Meiler. „Vor allem in Europa“.
Der Mozzarella di Bufala, dieses „weisse Gold“, ist nur einer der vielen Geschäftszweige der Mafia: ein einträglicher. 1,2 Milliarden Euro werden jährlich umgesetzt. Ein grosser Teil dieses Geldes gelangt in die Taschen der Mafia.
Somatotropin, Natriumhydroxid
Als Domenico Bidognetti die Ermittler darüber informierte, welche Ställe den Casalesi gehörten, wurde kurz darauf sein Vater erschossen. „Die Killer kamen im Morgengrauen ... da hatte der Bauer gerade die Stiefel für seinen Stall angezogen. Zwölf Kugeln trafen ihn.“
Der Mozzarella, den die Mafia produziert, stammt oft aus Büffeln, die mit dem Wachstumshormon Somatotropin gedopt werden. Alte, stinkende Milch wird mit Natriumhydroxid aufgepeppt. Oft wird Kuhmilch aus Rumänien beigemischt. Damit alles schön weiss aussieht, wird Kalk beigegeben. Wenn Kontrolleure kommen, ist die Mafia meist vorher schon informiert. Carabinieri, Polizisten, Politiker, manchmal auch Richter schauen weg. Sie geben den Mafiosi Tipps, wenn Kontrollen bevorstehen.
Sie beherrscht alles
Neben der Mozzarella-Produktion kontrolliert die Mafia fast alles, was auf den Tisch kommt. „Das Geschäft mit dem Essen, mit Gemüse und Früchten, Olivenöl und Mozzarella, Pizza und Pasta, ist in den vergangenen Jahrzehnten zu einem bedeutenden Sektor im Portfolio der Mafia geworden“, schreibt Meiler. „Es ist ihr zweitgrösstes Geschäft, mehr als 24 Milliarden Euro nimmt sie damit im Jahr ein. Nur Drogen bringen noch mehr.“
Vom Feld bis in die Supermärkte, bis in die Restaurants – die Mafia hat die ganze Kette unterwandert. Sie diktiert die Preise und beherrscht den Transport.
Die Mafia zahlt immer
Sie liebt Wirtschaftskrisen und Umstürze. Als die Berliner Mauer fiel, kaufte sie im Osten Deutschlands alles, was sie nur kaufen konnte: Immobilien und Geschäfte. Bei Krisen schlägt sie zu. Auch jetzt während der Corona-Pandemie. Geschäfte und Unternehmen, die in Not geraten sind, erhalten von der Mafia sofort Geld – im Gegensatz zu den Banken, die keine Kredite mehr vergeben. Doch die Mafia zahlt bar. Sie hat immer Geld. Und sie fragt nicht. So frisst sich das organisierte Verbrechen immer mehr in die Gesellschaft ein. Und wer in Not ist, verkauft: eben auch an die Mafia.
Die Mafiosi schiessen viel weniger als früher, schreibt Meiler. Ihre Sprösslinge studieren an den besten Universitäten. Sie sind weltgewandt, mehrsprachig, international vernetzt.
In die Verzweiflung getrieben
Oliver Meiler nimmt uns mit auf die Reise vom südlichsten Sizilien bis nach Deutschland. Das Geschäft mit dem „roten Gold“, den sizilianischen Pachino-Tomaten, den Besten in Italien, hat die Mafia schon längst unterwandert. Weil die sizilianische Cosa Nostra geschwächt ist, hat die kalabresische ’Ndrangheta an vielen Orten in Sizilien das Zepter übernommen. Mit Dumpingpreisen treibt sie ehrliche Tomatenbauern in die Verzweiflung. Produzenten, die nicht mit der Mafia kooperieren, werden ausgeschlossen. Auch chinesische Tomaten werden auf den Markt geworfen.
Die Tomatenpflücker, oft sind es Afrikaner, verdienen für zehn Stunden Arbeit pro Tag 20 bis 25 Euro. 3 Euro müssen sie für die Fahrt auf die Felder abgeben. „Der Mafia gefiel die Ausweglosigkeit dieser Menschen, sie macht sie gefügig.“ Untergebracht sind sie in Zeltlagern, Garagen, Blechhütten und verlassenen Fabrikhallen. Auch junge Rumäninnen werden angeheuert; sie werden dann oft sexuell missbraucht. Früher gab es Tomaten von Juni bis Oktober. Jetzt gibt es Treibhäuser, jetzt gibt es Tomaten fast das ganze Jahr, was der Mafia ein neues Geschäftsfeld eröffnet.
Tresteröl statt Extra Vergine
Jedes Jahr verschwinden Zehntausende Tiere, im ganzen Land sind es etwa 150’000 pro Jahr. Sie werden von der Mafia teils in eigenen unhygienischen Schlachthöfen getötet. Ohne jede Kontrolle. Auch kranke Tiere, die von Tuberkulose oder Brucellose befallen sind, werden geschlachtet und kommen auf den Markt. Tierärzte fälschen Dokumente.
Olivenöl, das „grüne Gold“, bietet sich zum Betrug an. Kalt gepresstes Olivenöl, „made in Italy“: Selbst Experten lassen sich düpieren. Es sei „fruchtig“ und „ungefiltert“ steht auf den Etiketten. Die Hälfte des in Deutschland so verkauften Olivenöls verdient diese Auszeichnung nicht, schreibt Meiler. In den USA sind es 70 Prozent. Oft wird Tresteröl verkauft. Oder Öl von Oliven, die von weit her kommen. „Natives Olivenöl extra“, „kaltgepresst“, das im Laden weniger als 7 Euro koste, sei mit Sicherheit gepanscht, schreibt Meiler. „In Italien wird kein Olivenöl öfter gefälscht als das toskanische.“
EU-Gelder für Fussballplatz
Die Mafia „kauft Ländereien im grossen Stil, um Subventionen aus den Strukturfonds der EU abzuschöpfen“, schreibt Meiler. Und die EU zahlt und zahlt. Ein Hauptgeschäft der Mafia sei es, an möglichst viele Zuschüsse aus den EU-Töpfen zu kommen. „In einem Fall schaffte es die Mafia auch, einen Fussballplatz als Agrarland zu deklarieren.“ Dafür erhielt sie von Brüssel Landwirtschaftszuschüsse.
Da und dort kontrolliert die Mafia auch die Wasserversorgung, sie hält das Monopol für die Utensilien, für Blachen der Treibhäuser. Jeder Lieferwagen, der Früchte und Gemüse transportiert, zahlt der Mafia eine Steuer. Sie dominiert Supermärkte, bestimmt überall die Preise. Auch Sozialwohnungen sind in ihrem Portfolio. Sie besticht Politiker und verdient am Waffenhandel, am Zement und an Glücksspielen und investiert in die Bauwirtschaft. Früher machte sie auch viel Geld mit Entführungen.
Heroin-Süchtige sterben schneller
Während der Wirtschaftskrise gelang es ihr, Milliarden aus dem Drogenhandel zu waschen. „89 Prozent des Kokains, das in Europa konsumiert werde, komme von der ’Ndrangheta. Früher wurde vor allem Heroin verkauft, jetzt ist es Kokain. Weshalb? Konsumenten von Kokain leben länger und bleiben länger Kunden; Konsumenten von Heroin jedoch sterben als Kunden schnell weg. Neunzig Prozent des Kokains für Europa wird über den Hafen von Gioia Tauro in Kalabrien umgeschlagen.
Die Mafia hat sich schon immer fürs Essen interessiert. Schon immer kaufte sie Restaurants und Pizzerien auf. Dort trifft sie sich, zelebriert ihre Gelage und dreht ihre Geschäfte. Sie besitzt Tausende Restaurants und Pizzerien, in der sie ihre Milliarden, die aus dem Drogen- und Waffenhandel stammen, ungezwungen waschen kann. Auch im Ausland wimmelt es von italienischen Restaurants. Rentieren müssen diese Gaststätten gar nicht; sie haben die Funktion von Waschmaschinen.
„Camorra capitale“
„Restaurants und Hotels, die sich weigerten, Schutzgelder zu zahlen, überhäufte die Mafia mit schlechten Rezensionen auf Tripadvisor. Wer mit den Mafiosi zusammenarbeitete, erhielt positive Rezensionen, wer sich weigerte, niederschmetternde.
Rom, die Hauptstadt, ist längst Mafialand. „Camorra capitale“ wird sie von den Medien genannt. „Die Stadt wurde von der Mafia ‚kolonialisiert‘“, zitiert Meiler das Nachrichtenmagazin „L’Espresso“. Höchste Politiker speisen in den Mafia-Restaurants. Manchmal hört die Polizei mit. So wurde Marcello dell’Utri, Berlusconis Verbindungsmann zur Mafia, überführt.
Chips im Käse
In der Emilia-Romagna steht der Parmesan-Käse, der Parmigiano, auf der Liste der Mafia. Jedes Jahr werden Tausende Laibe im Wert von mehreren Millionen Euro gestohlen. Die Käser versuchen jetzt, Chips in die Laibe einzupflanzen, um den Verbleib der gestohlenen Ware zu eruieren.
Und natürlich gibt es Betrügereien mit dem Prosciutto di Parma. Oft sind es dänische Schweine aus denen der Schinken gewonnen wird.
Ein grosses Geschäft ist die Müllentsorgung. Giftiger Sondermüll, radioaktive Abfälle, Müll aus Spitälern, chemische Stoffe, Industriemüll wird irgendwo vergraben. Der Boden auf dem die Büffel weiden ist vergiftet. Die Zahl von Tumoren in der Gegend ist stark gestiegen.
Selbst bei Don Camillo und Peppone
Es gab und gibt in Italien immer wieder mutige Leute, die die Machenschaften der Mafia aufdecken: Richter und vor allem Journalisten. Der berühmteste ist Roberto Saviano, dessen entlarvendes Buch „Gomorrha“ ein Weltbestseller wurde. Er lebt heute eng bewacht von Bodyguards. Doch auch Journalisten lokaler Zeitungen zeigen viel Mut und leben gefährlich.
In der Emilia-Romagna haben sogar Schüler in einer Schülerzeitung viele Mafiosi überführt. Es gelang ihnen, im Dorf Brescello, dort, wo die „Don Camillo und Peppone“-Filme gedreht wurden, die Gemeindeverwaltung der Komplizenschaft mit der Mafia zu überführen.
Vorliebe für Deutschland
Jetzt sind wir im Norden Italiens angelangt. Der Mailänder „Ortomercato“, einer der grössten Gemüse- und Früchtemärkte, ist ganz in den Händen der Mafia. Von hier aus wird die Ware, die aus dem Süden kommt, ins Ausland transportiert.
Doch längst ist die Mafia nicht nur in Italien tätig. Die ’Ndrangheta unterhalte Filialen überall in der Welt, besondere Vorliebe habe sie für Deutschland, schreibt Meiler. Längst hat sie sich nicht nur in den grossen Städten, sondern auch in der Provinz festgesetzt.
Der Norden schaut weg
Die Schiesserei vor der Pizzeria Da Bruno in Duisburg im Jahr 2007 ist der Beweis, dass auch in Deutschland Kämpfe zwischen einzelnen Clans ausgetragen werden. Sechs ’Ndrangheta-Leute wurden vor der Pizzeria mit 54 Schüssen hingerichtet.
Doch im Norden schaut man meist weg und bezeichnet das Problem als rein italienische Angelegenheit. Meiler spricht von der „deutschen Nonchalance im Umgang mit der Mafia“. „Wenn ich ein Mafioso wäre“, zitiert Meiler einen Oberstaatsanwalt von Palermo, „würde ich mein Geld auch nach Deutschland bringen.“ Etwa hundert Milliarden Euro, so nimmt man an, kommen jedes Jahr nach Deutschland. „Ausgerechnet Deutschland, das Italien in finanziellen und fiskalischen Angelegenheiten gerne Moral predigt, fungiert als Geldwäscherei der Mafia.“
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Und jetzt? Oliver Meilers intensive, detaillierte Recherche erschüttert. Ich bin oft in Italien. Wenn ich das nächste Mal in einem meiner geliebten Restaurants in Rom, Neapel, Florenz oder Mailand sitze, was kriege ich da vorgesetzt: Mozzarella mit Wachstumshormonen? Gestohlenen Parmesan-Käse? Krankes Tuberkulose-Fleisch? Toskanisches Olivenöl aus Tresteröl aus Syrien? Und: gehört die Pizzeria, in der ich gerade sitze, der ’Ndrangheta oder der Camorra?
Oliver Meiler will einem Generalverdacht entgegenwirken. Trotz vielen Betrügereien schreibt er: „Ein grosser Teil der Lebensmittelproduktion ist sauber, sie wird betrieben von Menschen mit viel Leidenschaft für ihren Beruf und für die Traditionen.“
*) Oliver Meiler: Agromafia
dtv, München, 364 Seiten, 2021