Koudekerke: eine kleine Siedlung im Süden von Holland, genauer auf der Halbinsel Walcheren. Nicht gerade ein Ort, wohin es einen als Tourist hinzieht, aber genau da verbrachte ich mit meiner Familie meine Sommerferien. Zustande gekommen ist dieser Aufenthalt durch einen Haustausch. Eine in Koudekerke wohnhafte Familie bot ihr Haus gegen das unsrige an, und ich sagte zu.
Prospekte erwähnen höchstens die Tatsache, dass Koudekerke zu den Kirchenringdörfern gehört. Die Kirche im Zentrum wird ringförmig von einer geschlossenen Häuserreihe eingefasst.
Auf den kurzen Ausflügen mit dem Rad zeigen sich die typischen Elemente der holländischen Landschaft. Keine Bodenerhebung, Felder so weit das Auge reicht, dazwischen Wasserrinnen, hie und da Tümpel. Einzig die Betonbunker passen nicht zur Idylle. Und davon gibt es rund um Koudekerke einige.
Mangels Alternativen beginnt der unterbeschäftigte Architekturhistoriker diese Gebilde genauer zu betrachten. Sie erinnern an gewaltige Skulpturen. Teilweise stehen sie nackt da, teilweise überwuchert. Darf man sich mit diesen Architekturen überhaupt aus einer kunsthistorischen Warte beschäftigen? Sie stehen doch für Zerstörung, für unendliches Leiden. Noch dazu weiss man ja, dass sie vom menschenverachtenden Naziregime gebaut wurden. Sollte sich da nicht sogleich Abscheu einstellen? Müsste man sich nicht empören, dass auch nach über siebzig Jahren die Überreste der grössten von Menschen verursachten Katastrophe des 20. Jahrhunderts immer noch nicht entsorgt sind?
Ich bin nicht der erste, der die Bunker nicht nur als militärhistorische Monumente, sondern auch als Artefakte wahrnimmt. Es war Paul Virilio – der Philosoph und Kritiker der Mediengesellschaft hat sich namentlich als Simulations-, Virtualitäts- und Geschwindigkeitstheoretiker hervorgetan –, der 1976 im Centre Pompidou in Paris eine Ausstellung mit dem Titel «Bunkerarchäologie» einrichtete. Sie stellte Überreste des sogenannten Atlantikwalls ins Scheinwerferlicht. Die Begleitpublikation, in zahlreiche Sprachen übersetzt, lenkte die Aufmerksamkeit der Architektenzunft auf diese speziellen Gebäude. Virilio selber sakralisierte die Bunker gleichsam, indem er 1966 zusammen mit Claude Parent in Nevers die Kirche Sainte Bernadette du Banlay als bunkerartigen Betonmonolithen realisierte.
Auf Walcheren liessen die Deutschen nicht weniger als 330 Bunker zurück, die Teil des 1942 begonnenen Atlantikwalls waren. Entlang der Atlantikküsten von Nordnorwegen bis Spanien sollten 15'000 Bunker zur Abwehr möglicher Angriffe der Alliierten erstellt werden. Rund 2000 wurden realisiert, und einige waren noch im Bau, als sich 1944 die Niederlage der Deutschen abzeichnete.
Rund 80 Bunker sind in der Gegend von Koudekerke erhalten geblieben. Seit einigen Jahren steht ein Flyer zur Verfügung, der auf die mit dem Fahrrad zu bewältigende 65 Kilometer lange Bunkerroute aufmerksam macht. Eingeschlossen ist der Besuch des Bunkermuseums Zoutelande, wo in zwei Bunkern das Innere originalgetreu rekonstruiert wurde. Für den Architekturhistoriker sind insbesondere die Betonmodelle der verschiedenen Typen faszinierend. Sie sind von gegenstandslosen Plastiken kaum zu unterscheiden.
Als Projekt des Europäischen Kulturerbes 2018 schufen Belgien, Dänemark, Frankreich, Holland, Norwegen, die Kanalinseln sowie Deutschland das Label «Atlantikwall Europe». Es dient dem Anliegen, über die Anlagen zu forschen, sie zugänglich zu machen – wofür alljährlich in jedem Land ein spezieller Bunkertag bestimmt wird – und sie teilweise auch zu bewahren. Damit wird der Wall nicht nur als historisches, sondern auch als kulturelles Gut verstanden.
Darf man Bunker schön finden? Eine solche Frage beantworten zu wollen, würde bedeuten, dass man sich auf das glitschige Feld der Moral begibt. Um es drastisch auszudrücken: An wie vielen Werken aus dem Bereich der Künste und der Musik klebt Blut? Wer hier strenge Massstäbe anlegt, darf weder mittelalterliche Burgen noch Schlösser, weder Befestigungsmauern wie etwa die Museggmauer in Luzern noch die formvollendeten Vauban’schen Schanzenkonstruktionen, ja nicht einmal alte Industrieanlagen tolerieren. Ich erlaube mir, die Bunker in einem neuen Kontext zu betrachten und sie als eine Variante von Land Art zu bestaunen.