Heute explodiert der dem Bilateralismus inhärente Widerspruch zwischen unserer Nichtmitgliedschaft in der EU und unserem Anspruch auf Zugang zu ihrem Binnenmarkt. Dieser Widerspruch stellt uns vor eine schwierige Wahl: entweder Nachvollzug der EU-Beschlüsse ohne Mitspracherecht oder Ende des bilateralen Wegs.
Ursprung aller Probleme ist 1993 die Geburt des Binnenmarktes der EG, wie sich die EU damals noch nannte. Eine gefährliche Situation für Unternehmen aus Nicht-EG-Ländern: Im EG-Grossraum zirkulierten jetzt alle Produkte und Dienstleistungen ihrer Konkurrenten frei über die Grenzen, nicht aber die ihrigen. Zölle („Tarife“) waren zwar auch für sie schon lange abgeschafft, aber jedes Land hatte „nichttarifarische“ Handelshindernisse: von Staat zu Staat andere Umwelt-, Gesundheits-, Sicherheits- und viele andere Sachvorschriften. Jedes EG-Land behinderte die Einfuhr aller Produkte aus den EG-Partnern, die nicht seinen Normen entsprachen. In acht Jahren harter Verhandlungen vereinheitlichten sie EG-weit alle diese nichttarifarischen Hemmnisse in 300 Einzelrichtlinien. Dann konnten sie alle Grenzkontrollen für Waren abschaffen! Die Produkte und das Geschäftsgebaren ihrer Unternehmen mussten im ganzen EG-Raum der 300 Millionen Konsumenten nur noch einem einzigen Satz von Normen und einer einzigen Kontrolle genügen und konnten dann frei zirkulieren.
Unternehmen aus Nicht-EG-Ländern hatten natürlich keinen Anspruch, von einem Werk zu profitieren, das die EG-Mitglieder geschaffen hatten. Dazu muss man zu einem politischen Schritt bereit sein, den die Schweiz weit von sich weist: Souveränität abgeben und sich Mehrheitsabstimmungen unterziehen. Einstimmig wären die 300 Richtlinien nie zustandegekommen, gegen fast jede wehrten sich eins oder mehrere EG-Länder. Jedesmal wurde lange ein Kompromiss gesucht, erst wenn er nicht in Sicht kam, wurde abgestimmt. In Europa hat nur die EU dank diesem Mehrheitsmechanismus (hierzulande „Zentralismus“ genannt) die geballte Kraft zur Verwirklichung eines solchen Mammutprojekts.
Aber die EG wollte Europa nicht spalten und offerierte den Nichtmitgliedstaaten einen gleichberechtigten Zugang zu ihrem Binnenmarkt: den EWR, den „Europäischen Wirtschafts-Raum“, in welchem deren Unternehmen alle Vorteile des Binnenmarktes geniessen konnten, wenn sie dessen Regeln einhielten, ohne dass ihre Länder EG-Mitglieder werden mussten. Sechs europäische Demokratien traten zufrieden bei, die Schweizer lehnten ihn an jenem denkwürdigen 6.Dezember 1992 mit knappem Volks- und klarem Stände-Nein ab.
Draussen vor der Tür
Jetzt war es ernst für unsere Schweizer Unternehmen: im Markt, der 60 Prozent ihrer Exporte abnahm, hatten nur noch sie den Wust von nichttarifarischen Handelsbarrieren zu übersteigen. Technische Anpassungen ihrer Produkte an die EG-Normen und die Beweisprozeduren, dass sie diesen entsprachen, schufen grosse Zusatzkosten und Zeitverluste.
Und wieder zeigte sich die EG entgegenkommend: Sie handelte mit der Schweiz bilaterale Abkommen aus, die unsere Sonderwünsche berücksichtigten und die wichtigsten Friktionen Punkt für Punkt milderten oder beseitigten; als Gegenleistung mussten wir ihr den freien Zugang ihrer Arbeitskräfte und ein Kontingent von 600000 40Tönnern über unsere Alpenpässe gewähren. Die bilateralen Abkommen sind aber nicht mit dem Binnenmarkt vergleichbar: Dort sind die Vorschriften ein homogenes Paket, wir haben für 16 verschiedene Sachgebiete 16 Abkommen, jedes ist ein Fleckenteppich von Vorschriften mit vielen Lücken, Ausnahmen, Unregelmässigkeiten und Sonderregeln. Als einziges Land im EG- und EWR-Raum haben wir darum nur eine partielle und hochkomplizierte Teilnahme am Binnenmarkt.
Stolperstein „Nachvollzug„
Mit diesen bilateralen Abkommen entstand aber, auch das nur für uns, die Knacknuss des „Nachvollzugs“, die jetzt den Ausbau des Bilateralismus blockiert. Die EG- und EWR-Länder werkeln am Binnenmarkt ständig weiter, passen seine Regeln laufend den neuen technischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Anforderungen an und giessen sie in neue, meist weiter einschränkende Vorschriften. In den bilateralen Abkommen geschieht das nicht, die Schweizer dürfen nach deren veraltenden, milderen Kriterien produzieren und exportieren. Jede neue Binnenmarktregel benachteiligt darum die EG-Unternehmen ein bisschen mehr!
Bilaterale Abkommen kann man aber nicht alle paar Wochen neu aushandeln. Es gäbe auch gar nichts auszuhandeln, denn jede der Schweiz zugestandene Ausnahme würde ihre Unternehmen doch wieder besser stellen als ihre EU-Konkurrenten. Darum fordert die EU, wir müssten die strengeren Binnenmarktvorschriften vollständig und im Gleichschritt übernehmen: den automatischen Nachvollzug! Ein Schreckwort für unsere Diplomatie und unsere Nationalisten. Wir können doch als souveräner Staat nicht von Fremden beschlossene Vorschriften übernehmen, ohne dass wir ein Mitspracherecht haben! Ja aber... ein Mitspracherecht kann man nur in einem Klub haben, dem man angehört. Und der Binnenmarkt gehört nun einmal nicht uns, sondern diesem Brüsseler Klub.
Die EU könnte die bilateralen Abkommen künden. Sie akzeptiert aber die bisherigen weiter und sagt nur, sie werde über keine weiteren verhandeln, wenn die Schweiz den Nachvollzug verweigert. Wir müssen wählen. Der EU beitreten ist politisch unmöglich. Damit bleibt uns nur eine Alternative: den automatischen Nachvollzug akzeptieren oder unsere Wirtschaft ohne Weiterentwicklung des Bilateralismus zu einer Stagnation ihrer Marktchancen im Binnenmarkt verurteilen. Was sie auf die Länge aushungern würde
Wenn Schweizer das Wort „Binnenmarkt“ hören, scheinen sie manchmal zu denken, wir hätten ein Recht auf ihn. Wenn die EU Bedingungen stellt, wird das als Ungerechtigkeit empfunden oder gar Erpressung und Diktat genannt. Die EU ist uns aber nichts schuldig, sie hat den Binnenmarkt aufgebaut, und jetzt braucht unsere Wirtschaft dringend den Zugang zu ihm. Jeder Verein würde es empört zurückweisen, wenn ein Nichtmitglied seine Leistungen beanspruchen und erst noch Ausnahmeregeln verlangen würde.