Wolfgang Kröger beschäftigt sich seit Jahrzehnten mit den Risiken der Kernkraft und anderer grosstechnischer Anlagen und Systeme. Stephan Wehowsky hat ihn in Zürich besucht.
Journal21: Wir leben in einer Welt der Technik. Werden die damit verbundenen Risiken adäquat eingeschätzt?
Kröger: Man weiss, dass Risiken unterschiedlich wahrgenommen werden. Häufige Ereignisse mit geringen Folgen werden eher unterschätzt. Dagegen werden seltene Ereignisse mit gravierenden Folgen eher überschätzt. Diese Asymmetrie ist da. Entsprechend werden die nuklearen Risiken tendenziell überschätzt.
Aber ist es nicht so, dass sich die alltägliche Infrastruktur wesentlich einfacher reparieren lässt, weil dazu mehr Zeit zur Verfügung steht und auch die Zugänglichkeit günstiger ist? Wenn es dagegen in einem Kernkraftwerk zu Störfällen kommt, herrscht äusserster Zeitdruck und manche Bereiche können gar nicht mehr betreten werden.
Dass man mehr Zeit hat, heisst nicht automatisch, dass man damit besser umgeht. Vieles wird verschoben, und die Zeit vergeht, ohne dass man sie nutzt. Aber natürlich ist die Situation in einem Kernkraftwerk prinzipiell dramatischer, als wenn etwa der Pfeiler einer maroden Brücke repariert werden muss, und die Vorkehrungen müssen dem entsprechen.
In den USA sind Brücken schon urplötzlich eingestürzt. Ist es nicht erstaunlich, dass so etwas bei dem derartig hoch entwickelten Sicherheitsbewusstsein der Amerikaner passieren kann?
Das Risk Center der „Eidgenössisch Technischen Hochschule Zürich“ ETH betreibt anwendungsbezogene Forschung (R&D) im Bereich technischer und anderer Risiken. Die Projekte sind interdisziplinär angelegt. An dem Institut arbeiten derzeit 15 Professoren aus verschiedenen Forschungsbereichen und 15 PHD Studenten. Das Ziel besteht darin, wirtschaftliche Unter-nehmen und gesellschaftliche Insti-tutionen bei der Entwicklung und Implementierung von Steuerungselementen in komplexen Systemen zu unterstützen.
Prof. Dr. Wolfgang Kröger leitet das ETH Risk Center. Er ist Spezialist für die Sicherheit von Kernkraft-werken und war unter anderem Direktor der Abteilung für Sicherheitstechnik am Kernforschungszentrum Jülich.
Einige Kollegen von mir haben sich damit beschäftigt. Sie haben in den USA im Rahmen eines Studienprojektes eine Bestandsaufnahme gemacht. Daraus ergab sich ein erschreckendes Bild. Der Grund dafür liegt in den knappen öffentlichen Kassen bis zum nahen Staatsbankrott Kaliforniens. Man hat einfach kein Geld für die nötige Instandhaltung bzw. Reparaturen. Das wenige Geld wird dann nur in die akut notwendigen Reparaturen gesteckt.
Nicht nur Strassen und Brücken altern, sondern auch grosstechnische Anlagen wie Atomkraftwerke. Bedeutet das nicht, dass mit der Alterung und den Laufzeitverlängerungen die Risiken von Störfällen zunehmen?
Wir haben bei technischen Komponenten die so genannte Badewannenkurve. Die entsteht dadurch, dass man fragt, wie gross die Wahrscheinlichkeit ist, dass eine technische Komponente in der nächsten Zeit versagt. Am Anfang stehen sogenannte Kinderkrankheiten. Dann kommt man in den Bereich einer relativ langen Zeit mit einer konstant niedrigen Ausfallrate. Gegen Ende des technischen Lebens nehmen die Ausfälle zu, man spricht von den Verschleissausfällen.
Da spielen Materialeigenschaften eine Rolle, aber auch der Verschleiss durch die Nutzung. Wenn man diesen Faktoren nicht Rechnung trüge, dann müsste man vor älteren Anlagen – Kernkraftwerken - schlicht Angst haben. Was man aber machen kann und macht, ist, diese Komponenten auszutauschen, bevor sie in den Bereich ihres Verschleisses hineinkommen. Entsprechend hängt die Risikobewertung sehr stark davon ab, wie gut die Überwachungsprogramme sind. Wie oft finden Reparaturen und Instandsetzungen statt? Diese Faktoren sind bei Kernkraftwerken ein fester Bestandteil der Genehmigungsverfahren bzw. des erlaubten Betriebes. Die Komponenten werden regelmässig überprüft und häufig ausgetauscht, bevor sie überhaupt an ihre Verschleissgrenze geraten. Das ist das präventive Ersetzen von Komponenten.
Die einzige Komponente, die letztlich die Lebensdauer eines Kernkraftwerkes bestimmt, das ist das Reaktordruckgefäss selbst. Das versprödet durch Neutronenbeschuss und die thermischen Belastungen. Diese Komponente wird natürlich gezielt überwacht.
Wie lässt sich denn so ein Reaktordruckgefäss überwachen?
Das geschieht auf zwei Arten. So gibt es die „voreilende Proben“. Das heisst, man setzt das gleiche Material einem Bereich höherer Strahlung aus. Daraus schliesst man auf das Verhalten des Materials im Reaktordruckmantel. Und von Zeit zu Zeit, wenn Revisionen durchgeführt werden, überprüft man das Reaktordruckgefäss mithilfe von Ultraschall.
Und wer kontrolliert die Kontrolleure?
Kernkraftwerke unterliegen anderen Überwachungskriterien als alltägliche Maschinen. In allen Ländern gibt es so genannte Nuklearinspektorate. Deren Arbeit, deren Qualität, deren Gewissenhaftigkeit, deren Unabhängigkeit von den Betreibern und von ökonomischen Gesichtspunkten sind Garanten dafür, dass man genau hinschaut und diese Anlagen überwacht. Man muss auch beachten, dass der Betreiber selbst ein Interesse daran hat, dass diese Anlagen funktionieren und kein Sicherheitsrisiko darstellen, denn jede Unterbrechung kostet Geld, jede Ausserbetriebnahme über längere Zeiträume kostet viel Geld. Und Störfälle, die den Verlust des Kernkraftwerks bedeuten würden, verursachen Kosten in Milliardenhöhe – allein für das Kernkraftwerk.
In Deutschland gibt es die Energiewende. Entwertet diese nicht die bestehenden Kernkraftwerke? Entsteht dadurch nicht ein zusätzliches Sicherheitsrisiko?
Wenn man die Augen zudrückte, vielleicht; das ist auch in der Schweiz ein Thema. Die Behörden müssen die Sicherheitsanforderungen stellen, die für alle Anlagen, gleich in welchem Alterszustand sie sind und so lange sie noch betrieben werden dürfen, gelten. Wenn es dann zum Beispiel um Nachrüstungen geht, einigen sich die Behörden mit den Betreibern auf einen vernünftigen Zeitplan. Es besteht im Prinzip eine Gefahr darin, dass man mit dem Argument kommt, eine Nachrüstung lohne sich nicht mehr. Eine Behörde muss das Notwendige vom Wünschbaren trennen und entsprechend durchsetzen.
Das erinnert ein bisschen an die Justiz: iudex non calculat – der Richter rechnet nicht.
Im Prinzip ist das so und muss es auch so sein. Natürlich müssen die möglichen Sicherheitsgewinne mit den Kosten in Beziehung gesetzt werden.
Dabei dürften die Experten sehr unterschiedlicher Meinung sein.
Wenn man die Experten genau fragt und sie entsprechend informiert sind, unterscheiden sich deren Meinungen gar nicht so sehr.
Wie steht es mit den Bauplänen der Kernkraftwerke? Diese Anlagen sind ja inzwischen um die 30 Jahre in Betrieb. Werden Baupläne überhaupt so lange aufbewahrt?
Das muss man differenziert betrachten. In der chemischen Industrie haben wir fürchterliche Unfälle erlebt - zum Beispiel in Toulouse oder in den Niederlanden, bei denen sich herausstellte, dass man mit einer relativ kleinen Anlage begonnen hat, die später nach und nach ohne entsprechende Dokumentation und Sicherheitsbetrachtungen erweitert wurde.
Man hat dann im Bereich der Chemie die sogenannte Seveso-Direktive erlassen. Die Schweiz hat dafür die Störfallverordnung installiert, und ein ganz wesentlicher Punkt ist, dass der Anlagenbetreiber, bevor er irgendetwas über das Risiko dieser Anlage sagt, die Anlage beschreiben muss. Er muss also genau hinschauen und die Dokumente bereitstellen. Da gab es schon die eine oder andere Überraschung, dass nämlich die reale Anlage ganz anders aussah, als sie in den Dokumenten dargestellt worden war.
Eine solche „Dokumentationspflicht“ gibt es zudem auch bei den Kernkraftwerken. Diese Dokumente müssen dem aktuellen Stand entsprechen. Dazu müssen die Betreiber spezifische Sicherheitsanalysen auf der Basis der bestehenden Anlage vornehmen. Diese Analysen werden alle fünf Jahre aufdatiert. Alle zehn Jahre werden auch die Methoden dem neuesten Stand angepasst. Zwischenzeitlich müssen alle wichtigen Änderungen gemeldet und von den Sicherheitsbehörden akzeptiert werden.
Aber es gibt einen wichtigen Punkt: Mit jedem ausscheidenden Mitarbeiter geht Wissen verloren. D.h. man verliert die Erfahrungen jenseits des Papiers. Dieses Wissen durch Interviews zu sichern, das ist noch ein anderes Thema. Insofern muss man auch auf die Altersstruktur der Belegschaft schauen. Schlecht ist es, wenn innerhalb von ein oder zwei Jahren alle erfahrenen Mitarbeiter aus Altersgründen ausscheiden.
Gibt es so etwas wie Übungen, dass Ingenieure Notfälle realitätsgerecht durchspielen?
Es gibt solche Notfallübungen. Operateure müssen zudem an Simulatoren üben. Dort werden Unfallszenarien durchgespielt.
Gibt es einen Austausch zwischen Kernkraftwerken bezüglich des Auftretens von Fehlern?
Es gibt zwei Ebenen. Es gibt ein so genanntes Reporting-System als Pflicht. Alle Vorkommnisse, die eine Sicherheitsrelevanz haben, müssen der Genehmigungsbehörde gemeldet werden. Diese besonderen Vorkommnisse werden auch jährlich publiziert. Die Genehmigungsbehörden sind untereinander vernetzt. Auch die Betreiber untereinander haben eine Organisation für den Austausch von Erfahrungen. Dazu gehören auch ein Reporting-System und regelmässige Auswertungen. Es geht also auch darum, voneinander zu lernen. Das war nicht immer so, aber es hat sich diese Weise in den vergangenen Jahren etabliert.
Sind die Aufsichtsbehörden für die Kernkraftwerke national oder international?
Sie sind national, denn die Verantwortung für die Kernkraftwerke ist national geregelt. Es gibt keine übergeordnete europäische Behörde, eine übernationale Sicherheitsdirektive ist aber am Entstehen.
Sie haben nicht den Eindruck, dass aufgrund des Kostendrucks und im Besonderen aufgrund der Energiewende in Deutschland die Sicherheit leidet?
Dieses Problem möchte ich nicht herunter spielen, so tun, als ob es nicht existent wäre. Die Betreiber stehen unter Druck, müssen Massnahmen ergreifen, um Kosten zu senken. Ich vertraue darauf, dass die Sicherheit darunter nicht leidet. Denn ich vertraue auf das Eigeninteresse der Betreiber. Und ich vertraue darauf, dass die Aufsichtsbehörden gewissenhaft hinschauen. Ich habe keinen Grund, in Anbetracht der neuen Situation bezüglich der Kosten besonders beunruhigt zu sein.
Wir beobachten bei technischen Grossprojekten - ob es sich um Züge von Siemens für die Deutsche Bahn, die nicht ausgeliefert werden, handelt, oder um Probleme mit dem Rüstungsmaterial - ein Scheitern, das man früher in dieser Weise nicht für möglich gehalten hätte.
Das hätte ich mir auch nicht vorgestellt. Ich habe darauf auch keine schlüssige Antwort. Das Einzige, was mir dabei als Erklärung in den Sinn kommt, ist, dass die Grossprojekte zu komplex geworden sind und sich über sehr lange Zeiträume hinziehen. Der Stand der Technik verändert sich während der Realisierung; das gilt auch für die Sicherheitsanforderungen. Es ist fast nicht möglich, nachträglich bestehende Anlagen oder Gebäude auf die neuen Anforderungen umzurüsten. Ich habe mir nicht vorstellen können, dass der Grossflughafen in Berlin aufgrund von mangelnden Brandschutzmassnahmen derartig ins Trudeln gerät. Als ich vor einigen Tagen den neuen unterirdischen Bahnhof in Zürich besichtigt habe, wurde mir allerdings klar, wie aufwendig solche Brandschutzmassnahmen sind.
Aber man darf darüber nicht vergessen, dass es zahlreiche Projekte gibt, die absolut termingerecht laufen, auch dem Kostenrahmen entsprechen. Das Projekt der Durchmesserlinie Zürich ist dafür ein Beispiel. Hoffentlich kann man auch die NEAT dazu zählen, wofür jetzt einiges spricht.
Dazu kommt noch, dass man mit Grossprojekten dieser Art genügend Erfahrungen haben muss. Wenn zum Beispiel das erste Mal – genannt: first of its kind - eine komplexe Anlage installiert werden soll und allein dadurch Probleme auftauchen. Finnland bietet mit dem neuen Kernkraftwerk mit der Verdopplung der Bauzeit ein trauriges Beispiel.
In der Luftfahrt hat die Überwachung der Lufträume bei zunehmendem Luftverkehr enorme Fortschritte gemacht, so dass heute Flugunfälle erstaunlich selten sind. Kann man annehmen, dass es ähnlich positive Entwicklungen auch in anderen technischen Bereichen gibt?
Tatsächlich ist die Sicherheit der Luftfahrt enorm gestiegen. Die Luftraumüberwachung hat nicht immer so gut funktioniert, denken Sie nur an das Unglück bei Überlingen am Bodensee. Und es gibt immer wieder Warnungen, dass in der Luftraumüberwachung noch einiges verbessert werden müsste.
Aber was man positiv übernehmen kann, das ist die Kultur des kontinuierlichen Lernens. Das klingt trivial, aber oft steht einer solchen Kultur die Kultur des Nicht-Versagen-Dürfens gegenüber. Es ist ein gewaltiger Lernfortschritt, sagen zu können: Es ist möglich, dass man Fehler macht. - Es gilt, davon zu lernen. Unfälle und vor allem Beinahe-Unfälle sind dafür wichitge Ausgangspunkte. Die werden systematisch in ihrer ganzen Komplexität zum Thema gemacht.
Zusätzlich gibt es eine internationale Organisation, die IATA, die sicherstellt, dass man global die gleichen Standards hat. Ausserdem werden die Flugzeuge vor jedem Abheben überprüft. Wenn man genau hinschaut, dann erkennt man, dass wir ähnliche positive Entwicklungen auch in anderen Bereichen haben. – Was man nicht vergessen darf, ist, dass die Luftfahrtgesellschaften ein grosses Eigeninteresse daran haben, soviel Sicherheit wie möglich zu gewährleisten.