Spitzensport ist die Suche nach physiologischer Transzendenz: Man will über seinen eigenen Körper hinauswachsen. Dabei war man sich zunächst klar, dass dem menschlichen Körper natürliche Grenzen gesetzt sind. Noch 1927 schrieb der englische Physiologe und Nobelpreisträger Archibald V. Hill: «Es gibt einen Widerstand, der der Muskelsubstanz inhärent ist und der mit steigender Geschwindigkeit ebenfalls ansteigt. Dieser Widerstand fungiert als automatische Bremse, die ein Tier daran hindert, sich zu schnell fortzubewegen und auf diese Weise derart hohe Geschwindigkeiten seiner Extremitäten zu erreichen, dass diese unter ihren eigenen Trägheitsbelastungen brechen würden.»
Normal und pathologisch
Als man aber zu Beginn des 20. Jahrhunderts in den Arenen und auf den Strassen vermehrt beobachtete, wie Athleten diesen «inhärenten» Widerstand überwanden, begann sich die Debatte der Sportmediziner um die «physiologische Pathologie» des Spitzensports zu drehen. In seinem Buch «Education physique et la Race» schrieb etwa der französische Pionier der Sportmedizin Philippe Tissié unverhohlen, dass «sportbedingte Erschöpfung beim gesunden Menschen so etwas wie eine experimentell verursachte Krankheit hervorruft (…) Der Athlet ist ein Kranker.»
Dabei sollte es freilich nicht bleiben. Mit der wachsenden gesellschaftlichen Anerkennung des Leistungssports wurde auch die Frage laut, was denn «biologische Grenze» (zumal Geschlechtergrenze) der Leistung bedeute. Der Spitzensportler stösst eine herkömmliche Werteordnung um. Nicht die gesunde (normale) Physiologie definiert den Rekord, sondern der Rekord definiert die gesunde Physiologie. Anders gesagt: Der moderne Hochleistungssport weicht die Grenzen zwischen Gesundheit und Krankheit auf. Und deshalb wird der Arzt zu seinem unentbehrlichen Bestandteil.
Natürlich und künstlich
So wie die Grenze zwischen Normalem und Pathologischem fliessend geworden ist, so auch die Grenze zwischen Natürlichem und Künstlichem. Akzeptiert man den technologischen Charakter des modernen Sports, dann wird man auch Doping als «systematischen» Bestandteil anerkennen müssen. Die Analogie von Körper und Gerät macht die Einnahme von Substanzen zu einer «Technik» der Leistungssteigerung wie hydrodynamisch verbesserte Schwimmanzüge, Fiberglasstangen beim Stabhochsprung oder die Karbonchassis von Fahrrädern.
Zur Verbesserung einer Maschine – also auch der Athleten-«Maschine» – erscheint letztlich jedes Mittel recht. Das Schneller-Höher-Stärker-Rennen ist im technischen Kontext entgrenzt worden, und kein Regelwerk oder ethisches Argument wird dieser Entwicklung auf der biologischen Grossbaustelle der athletischen Hybriden Einhalt gebieten.
Die Aura des Sportwerks
Walter Benjamin ging in seinem berühmten Essay vor über 70 Jahren der Frage nach, in welcher Weise die neuen Möglichkeiten der technischen Reproduzierbarkeit dem traditionellen Kunstwerk zu schaden drohen. Seine Antwort: «Was im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit des Kunstwerks verkümmert, das ist seine Aura.» Aura, das meint nicht nur die Einmaligkeit, die Echtheit, die Originalität des Kunstwerks, sondern zugleich auch die menschliche Fähigkeit, dieses «Hier und Jetzt des Kunstwerks» als solches wahrzunehmen und zu würdigen.
Technische Reproduzierbarkeit charakterisiert nun längst auch schon die athletische Leistung: das Sportwerk. Was ist seine Aura? Das, was man aus seinem Körper mit eigenen Kräften machen und herausholen kann: die Eigenleistung. Sie sieht sich im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit ständig verführt durch biochemische, biotechnologische, vielleicht bald einmal gentechnologische Hilfsmittel. Immer noch wollen wir die Spitzenathletin und den Spitzenathleten als die vielleicht letzten «authentischen» Leistungserbringerinnen und -erbringer bewundern.
Wenn Musiker oder Schriftsteller unter Einfluss von Hilfsmitteln – sagen wir Drogen – Meisterwerke zustande bringen, stellen wir die «Authentizitäts»-Frage nicht. Wir trennen Werk und Autor. Der Athlet dagegen ist Autor und Werk in Person, sein Rekord soll auf einmalige Weise demonstrieren, was er aus sich selbst gemacht hat.
Eigenleistung und Fremdleistung
Die Verwischung der Grenze zwischen Eigenleistung und Fremdleistung gefährdet die Aura des Athleten permanent. Es ist deshalb keine Frechheit, dass man sich für Leistungen rechtfertigen muss, wie sich die deutsche Olympiaschwimmerin Dagmar Hase vor einiger Zeit entrüstete; es ist schlicht logisch.
Und daran zeigt sich das tief Paradoxe im technischen Kontext: Wir wollen im Sportwerk Eigenleistung unter der wachsenden Zudringlichkeit der künstlichen Fremdleistung sehen, wir wollen Authentizität in zunehmend unauthentischeren Lebensumgebungen. In den raren Momenten des Gelingens tritt der Sportler aus sich heraus: in Ekstase. An dieser Ekstase, die oft einem religiösen Ereignis gleicht, wollen wir teilnehmen. Deswegen zahlen wir Eintritt in die Arena.
Aber der Verdacht verstärkt sich, dass wir einer Illusion erliegen. Im geläufigen Spruch, der Sportler zeige uns, was er selbst aus sich gemacht hat, klingt das «selbst» inzwischen unglaubwürdig. Denn in der Mangel der athletischen Identitätsfabrikation wird manch einem Nachwuchssportler das Selbst vorzeitig ausgepresst, und nicht wenige sehen sich nach getaner Arbeit als Müll ihrer selbst ausgestossen. Aura und Müll gehören im Spitzensport systembedingt zusammen.
«Homo optimus»
Was steht auf dem Spiel? Das Problem ist nicht die Einführung von Technologien in den Sport, sondern die Preisgabe des Sports an die Technologien, die Industrialisierung von Höchstleistung. Ein Sportereignis wie die Tour de France führt uns vor Augen, was längst im Gange ist: Die Herstellung von Körpern nach Wunsch und Mass. Supermuskeln, Superherz, Superlunge.
Wir richten’s selber, treiben’s selber auf die Spitze im Namen einer falsch verstandenen Selbstbestimmung. Die Natur kann bleiben, wo sie will. Die Anfälligkeiten, die Schwächen, die Grenzen unserer Physis, die wir alle kennen, sind nichts als Forschungsaufgaben für das Design des «Homo optimus». Der Athlet gleicht sich dem Bild an, das die Wissenschaft sich von ihm macht, und dadurch mutiert er zusehends zur Versuchsanstalt auf zwei Beinen.
«Wegen der Seele»
Wird der naturwüchsige Körper zum Anachronismus? Noch ist es nicht so weit. Die Option zwischen Wahn und Wirklichkeit liegt uns heute bloss deutlicher vor Augen. Es gibt im Übrigen durchaus Alternativen. Zum Beispiel genügt ein Blick auf Strassen und Wege. Zwar hecheln auch hier die Bewegungsjunkies ihren Soll-Werten verbissen hinterher, aber Tausende fahren Rad oder joggen, ohne sich an Rekorden und «Vorbildern» zu orientieren, ohne sich zu dopen. Sie fahren und laufen zu ihrer Freude und Lust, zu ihrem Wohlbefinden und sinnlich-ästhetischen Genuss der Selbstbewegung (des eigentlichen Auto-Mobilismus). Auch Anstrengung, Strapaze, Risiko, Grenzleistung gehören zu dieser Erfahrung.
Das Entscheidende dabei ist, dass man in dieser eigenleiblichen Tätigkeit das Leitmotiv entdeckt, das bereits Platon – seinerzeit als Ringer tätig – ganz einfach so definierte: Wir bewegen uns «wegen der Seele». Ich möchte es zielbestimmter sagen: Wir bewegen uns um unserer selbst willen. Wir sammeln uns, statt uns zu zerstreuen.
Sammeln statt zerstreuen
In dem Masse, in dem eine solche «sammelnde» Form von Sportivität Platz greift, könnte die Entdeckung der Eigenleistung durchaus das Potenzial einer kleinen Selbstermächtigung haben. Ihr Motto: Gegen das Zerstreuende, gegen das Körperversklavende! Wir können dieses Motto überall und jederzeit in die Tat umsetzen. Dazu braucht es keine Protzarenen zur sportlichen Produktplatzierung. Es braucht bloss eine Strassenecke, wo die Kids spielerisch ihre neuen Sportarten erfinden, oder ein öffentliches Schwimmbecken, wo die Rentnerin täglich ihre ruhigen Längen absolvieren kann.
Zur Standardrechtfertigung des Spitzensports gehört das Argument, er könne auch den Breiten- oder Massensport fördern. Vielleicht. Ich halte dennoch einen subversiven Vorschlag entgegen: Nehmen wir alles, wozu wir den Körper «wegen der Seele» einsetzen, als Mass. Vielleicht retten wir so den Sport vor sich selber. SPOMAFUGEGL – Sport macht frei und gibt eine gute Laune!