Die ersten Tage der Aktivität der arabischen Beobachter-Mission haben deutlich gezeigt, dass eine jede der drei beteiligten Parteien in Syrien ihre eigenen Ziele verfolgt und versucht, die Absichten der beiden anderen zu überspielen. Die Beobachter sollten feststellen und gegebenenfalls bestätigen, dass der syrische Staat sich an den Vertrag hält, den er mit der Liga ausgehandelt und unterschrieben hat. Der syrische Staat hingegen versucht, sich nicht an diesen Vertrag zu halten, aber dennoch eine Erfüllungsbestätigung von der Liga und ihren Beobachtern zu erlangen.
Was ist die wirkliche Lage?
Die Beobachter ihrerseits wissen wohl, dass der Staat sie zu hintergehen versucht. Doch sie gehen darauf aus, nicht vorzeitig mit Syrien zu brechen, sondern vielmehr ihre zunächst für einen Monat vorgesehene Mission dazu auszunützen, ein Bild von der wirklichen Lage im Land zu gewinnen.
Die dritte Kraft, jene der Protestbewegung, ist zu tiefst misstrauisch gegenüber den Beobachtern. Sie vermutet, dass diese - absichtlich oder instrumentalisiert - mit dem syrischen Staat zusammenarbeiten könnten, um dessen Sicht und Propaganda-Anstrengungen zu bestätigen. Sie vermutet auch, die Regierung wolle die Mission ausnützen, um Zeit zu gewinnen, während der sie weiter versuche, die Niederhaltung der Protestbewegung mit Gewalt zu erzwingen.
Bestätigt die Wirklichkeit der Proteste!
Dennoch möchte die Protestbewegung den Beobachtern zeigen, dass sie existiert und dass sie nicht - wie die Regierung von Damaskus behauptet - blosse bewaffnete Banden seien, die im Dienste der Feinde Syriens stünden. Sie hat die syrische Bevölkerung dazu aufgerufen, nun in Gegenwart der Beobachter besonders energisch zu demonstrieren, und ihre leitenden Köpfe sagen, die Blutopfer, die dies erfordere, seien hart, aber sinnvoll.
Die Protestbewegung sucht offensichtlich Kontakt mit den Beobachtern, gewiss, um ihnen die wahre Lage im Lande, so wie sie ihnen erscheint, möglichst deutlich zu machen.
Chance für die Protestbewegung
Die Protestbewegung war bisher wegen der Ausschaltung aller freien Berichterstattung durch die syrische Regierung vom Kontakt mit der Aussenwelt abgeschnitten, obwohl sie grosse Anstrengungen unternahm, über Videos und Internetverbindungen zu zeigen, was in ihrem Lande geschah. Doch dies waren immer Selbstdarstellungen, die der Objektivitätsgarantie entbehrten, die nur eine Vielzahl von aussenstehenden Beobachtern wirklich erbringen kann.
Die Protestbewegung ist daher sehr interessiert daran, die Beobachter zu erreichen und ihnen ihren Standpunkt, ihre Erfahrungen und ihre Leiden deutlich zu machen. Die Beobachter sind zum ersten Mal seit dem Beginn der Unruhen vor neun Monaten jene bisher fehlenden Aussenstehenden, deren Berichte beanspruchen können, eine objektive Sicht der Lage anzustreben und widerzugeben.
Kontrollversuche des Regimes
Die syrische Regierung wies die Beobachter zuerst ab, liess sie dann aber doch nach längeren Verhandlungen und nach Boykottdrohungen durch die Liga zu, weil - wie damals Aussenminister Mu’allem offen sagte - die Verhandlungen in einer zweiten Phase zum Abschluss eines Vertrages geführt hatten, "der die syrische Souveränität nicht verletzte". Der Wortlaut dieses Vertrages wurde nie veröffentlicht. Bekannt sind nur seine grossen Züge und einige der Einzelheiten der Vereinbarungen über die praktische Durchführung der Beobachtermission.
Im Vertrag steht offenbar, Syrien verpflichte sich, seine Truppen aus den Städten abzuziehen, friedliche Demonstrationen zuzulassen, die politischen Gefangenen zu befreien, politische Reformen einzuleiten. Die Bobachter hätten festzustellen, ob der syrische Staat diesen Zusagen nachkomme.
Die Vereinbarungen über die Durchführung der Beobachter-Mission legen offenbar nieder, dass die Beobachter von den syrischen Sicherheitsdiensten transportiert und "geschützt" würden. Laut Aussenminister Mu'allem sei auch festgelegt worden, dass die Beobachter ihre Berichte an die Liga der syrischen Regierung zu unterbreiten hätten, bevor sie endgültig formuliert und der Liga zugestellt würden. Doch ob dies zutrifft, ist von der Seite der Liga nie bestätigt worden.
Fragwürdige "Beschützer"
Die Beobachter sind angesichts der Vereinbarungen mit der syrischen Regierung eingebunden in "Kollaboration" mit den syrischen Sicherheitsbehörden. Dies ist der Hauptrund für die Skeptik der Protestbewegung. Es besteht kein Zweifel, dass die "Beschützer" und "Weggefährten" aus den Geheimdiensten alles tun werden, was sie können, um die Beobachter davon abzuhalten, direkten Kontakt mit der Protestbewegung aufzunehmen. Sie können darauf pochen, dass dies nicht die Aufgabe der Beobachter sei. Sie sollten ja nur "bestätigen", dass Syrien seinen Verpflichtungen nachkäme.
Die begleitenden Sicherheitsleute sind natürlich in der Lage, ihre "Schützlinge" an Orte zu steuern, wo Ruhe herrscht und zu Zeitpunkten an bisherige Unruheherde heranzukommen, in denen dort eher Grabesstille als Unruhe zu beobachten ist. Sie können auch dafür sorgen, dass zum Zeitpunkt des Eintreffens der Beobachter keine schweren Waffen oder Tanks an den betreffenden Stellen sichtbar sind. Zu solchen Zwecken müssen sie sich nur übers Telephon mit ihren an Ort und Stelle wirkenden Kollegen absprechen.
Allerdings sind die Unruhen so weit verbreitet, und der Willen der Bevölkerung, zu den Beobachtern durchzudringen, ist so stark, dass es mit grosser Wahrscheinlichkeit von Zeit zu Zeit zu Zusammenbrüchen der Sicherheitsinszenierung kommen wird und die Beobachter hier und dort Einblicke in die wirkliche Lage erhalten.
Abzug des Militärs ist kein Verzicht auf Repression
Der Abzug der Truppen aus den Städten und Dörfern ist insofern diskutierbar, als es in Syrien viele Zwischenformen zwischen Polizei und Armee gibt. Vom Abzug der Polizei ist nie die Rede gewesen. Die zahlreichen Gruppen und Corps von Geheimdienstagenten und Sicherheitsleuten, die es in Syrien gibt, unterstehen so gut wie immer militärischer Kontrolle. Sie sind aber selbst nicht als "Streitkräfte" einzustufen.
Darüber hinaus gibt es Parteimilizen und die alawitischen bewaffneten Gangs der Shabbiha, die auch nicht als Mitglieder der Armee gelten, aber Waffen tragen und Leute töten oder verschleppen und in die Gefängisse einliefern können. Dies erlaubt es den Armee-Einheiten, Ortschaften zu verlassen, sie aber dennoch durch Waffengewalt niederzuhalten, nachdem die Armee mit ihren Tanks sie "befriedet" hat. Dies ist dann der Augenblick, um sie den Beobachtern vorzuführen, vielleicht mit Hinweisen auf die "Bewaffneten Banden", die soeben besiegt worden seien.
Die Rolle der Armee-Deserteure
Die Begleiter der Beobachter sind auch in der Lage, auf die Aktivitäten der Deserteure zu verweisen, die in den vergangenen Wochen regelmässig versucht haben, versprengte syrische Militäreinheiten zu überfallen und auszuschalten. Dies liefert ihnen einen "Beweis" für den Wahrheitsgehalt der Regierungspropaganda von den "Bewaffneten Banden".
Der Major Riad Asad, der von der türkischen Grenze aus versucht, die Überläufer zusammenzufassen und zu aktionsfähigen Einheiten zu verschweissen, hat der Agentur Reuter erklärt, er habe "seiner Armee", die er die Freie Syrische Armee nennt, befohlen, alle Angriffe auf die syrische Armee einzustellen, um dem syrischen Regime nicht Gelegenheit zu bieten, die Deserteure und ihre Aktivitäten als die wichtigste oder die einzige Herausforderung darzustellen, mit der es zu ringen habe.
Die Beobachter-Mission muss sich einleben
Die Beobachter schliesslich versuchen, sich einerseits an die engen Spielregeln zu halten, die der syrische Staat ihnen auferlegt, aber andrerseits trotzdem ein möglichst vollständiges und realistisches Bild der Zustände im Lande zu gewinnen. Wenn sie zu früh gegen ihre Bevormunder aufbegehren, risikieren sie, dass die Mission abgebrochen wird, bevor sie noch viel Einblick gewonnen hat.
Wenn sie sich aber allzu zahm der Gängelung durch die syrischen Geheimdienste fügen, laufen sie Gefahr, an den Realitäten vorbeigeleitet zu werden.
Man kann vermuten und hoffen, dass es auf derartige Überlegungen zurückzuführen ist, wenn der Chef der Beobachter, der sudanesische Geheimdienstgeneral Mustafa al-Dibi, in seinen ersten Aussagen den Journalisten erklärte, er habe in Homs Zerstörungen, aber nichts Beunruhigendes gesehen.
Al-Dibi war auch bemüht, die kolportierten Aussagen eines der ihm unterstellten Beobachter, er habe Scharfschützen auf den Dächern gesehen und ihre Rücknahme von den Syrern gefordert, zu korrigieren, indem er behauptete, es habe sich dabei um einen blossen Konditionalsatz des Beobachters gehandelt. Er habe nämlich gesagt: Falls er Scharfschützen sähe, würde er ihre Zurücknahme fordern.
Durchblick oder Regime-Rettung?
Was man dabei hoffen kann, ist, dass es dem General und Geheimdienstspezialisten, der wegen vergangener Aktivitäten in Darfur keinen sehr guten Leumund besitzt, darum geht, den Fortgang seiner Mission zu sichern, und nicht darum, die syrische Regierung von aller Kritik reinzuwaschen. Die Mission der Beobachter steht erst in den Anfängen; täglich kommen neue Beobachter an, um die vorgesehene Zahl von etwa 100 aktiven Beobachtern und rund 100 Hilfskräften voll zu machen.
Es besteht keine realistische Hoffnung, dass Syrien sich an den Vertrag halten könnte, den es mit der Liga geschlossen hat. Wenn die Herrschaft al-Asads dies wirklich täte, würde sie die Oberhoheit über weite Gebiete Syriens verlieren, die mit der blossen Polizei, ohne Hilfe der Streitkräfte, schlechterdings nicht niedergehalten werden könnten. Solche Gebietsverluste wären für das Asad-Regime der Anfang von einem raschen Ende.
Das Mitspracherecht der Aussenwelt
Doch die Liga-Mission wird dennoch nicht ohne Wirkung auf Syrien bleiben. Sie stellt einen ersten Schritt der Internationalisierung des bisher rein innersyrischen Ringens dar. Es handelt sich zwar um eine Arabisierung, das heisst eine auf den arabischen Raum beschränkte Internationalisierung. Doch dieser erste Schritt ist getan, er wird schwerlich seine Ziele erreichen, doch er kann auch schwer zurückgetan werden. Er wird schon aus Prestigegründen für die Liga und ihre Staatsmänner zu weiteren inter-arabischen und möglicherweise späteren internationalen Eingriffen führen.
Das syrische Regime hat einräumen müssen, dass die Aussenwelt, und wenn es auch zunächst nur die arabische sein mag, ein Recht darauf habe, sich um die Vorgänge in Syrien zu kümmern, und Anspruch darauf erheben könne, ja erheben sollte, Einblick in das undurchsichtige Geschehen in dem informationsmässig verdunkelten Lande zu erlangen, das sich seit neun Monaten unkontrolliert und blutig in Syrien abspielt.