Seit Mitte des 19. Jahrhunderts gibt es im arabischen Raum das Problem der „Verwestlichung“, der „Globalisierung“. Die Muslime, Araber, Iraner, Türken etc. sagen sich: „Wir müssen uns der überlegenen Macht der westlichen Staaten fügen, indem wir von ihnen lernen und vieles übernehmen.“
„Aber wir wollen unsere Eigenheit, Kultur, Sprache und Religion bewahren. Doch der Übernahmeprozess greift immer weiter um sich. Er entfremdet uns von unserer eigenen Kultur und Essenz.“
Weiter fragen sie sich: „Was sollen wir übernehmen, was wollen wir bewahren und was zurückweisen?“ Die Fragen haben bis jetzt immer die Patriarchen entschieden. Die „Väter“ bestimmten, was man als Gutes übernehmen und als Schlechtes zurückweisen soll. Diese Entscheidungen wurden aufgrund der patriarchalischen Ordnung aller islamischen Kulturen gefällt, und zwar bis in die heutige Zeit. Doch die „Väter“ sind immer konservativ.
Identität und Wandel
Sie wollen einerseits bewahren. Anderseits müssen sie sich auch erneuern, um dem Ansturm der übermächtigen Fremden widerstehen zu können. Dies macht die Widersprüchlichkeit der arabischen Modernisierung aus. Dieser Widerspruch wird immer grösser: „Einerseits wollen wir uns selbst erhalten, anderseits strömt immer mehr Fremdes auf uns ein.“ Ein kumulativer Prozess der Selbstentfremdung entsteht.
In dieser Situation entwickelten sich seit der Unabhängigkeit der arabischen Staaten zwei Ideologien, die versprachen, das Dilemma zu bewältigen: zuerst der Nationalismus (überwiegend 1946 bis 1967), dann der Islamismus (überwiegend 1967-2001).
„Unsere Nation“ wird uns erlauben in ‚Würde‘ unser eigenes Leben zu führen, wenn sie nur einmal voll abgesichert und ausgebaut sein wird.“ So propagierte es der Nationalismus. Doch mit dem Sechstagekrieg bricht diese Ideologie zusammen. Eine neue entsteht: der Islamismus. „Unsere Religion bringt die Lösung“.
Beide Ideologien entwickeln sich innerhalb des patriarchalischen Systems. Sie werden von „Patriarchen“ verbreitet und angewandt. Diese Patriarchen sind meist militärische Alleinherrscher oder Obersten – oder „Theologen“.
Sie verfolgen das widersprüchliche Doppelziel: Die Eigenheit (so wie sie immer war und stets bleiben soll) muss bewahrt werden. Aber um dies zu ermöglichen, müssen immer mehr fremde Lebensformen übernommen werden: fremde Technologien, Wissen, Verwaltungs-, Herrschafts- sowie Wirtschaftsmethoden müssen in die eigene Gesellschaft eingefügt werden. Die beiden widersprüchlichen Ziele hemmen einander. Die erhofften Ziele werden nicht erreicht. Viele Länder kommen auch nicht wirklich voran. Deshalb entwickelt sich bei den verantwortlichen Machthabern, den Patriarchen, ein nicht zu übertreffendes Interesse an Machterhaltung.
Reichtum weniger, Blockade vieler
Im Dezember 2010 beginnt die Wende in Tunesien. Zum ersten Mal geht ein Veränderungsprozess nicht von der alten Generation der Patriarchen und Autokraten aus, sondern von der Jugend. Sie erklärt: „Wir selbst wollen kollektiv unsere Zukunft bestimmen, und wir gewinnen dadurch unsere ‚Würde‘ zurück. Wir lassen uns den Weg in die Zukunft nicht mehr vorschreiben und nicht mehr einschränken, auch nicht von Generälen und Ideologen.“ Die Jugend emanzipiert sich vom patriarchalischen System. (Dies ist auch für die Frauenfrage von grosser Bedeutung, denn die Frauen waren bisher besonders eng in dieses System eingebunden).
Warum kam es zu dieser Wend? Die alternden Einmann-Regimes entwickelten zunehmend eine Staats-, Macht- und Wirtschaftselite mit eigenen Verwandten und Klienten. Sie nützten die staatliche Hilfe aus, um sich politische und wirtschaftliche Monopole zu schaffen. All dies geschah mit Hilfe der Staatsschützer (Geheimpolizei), welche die Nicht-Begünstigten fern hielten.
Die Begünstigten, die als Gegenleistung den Alleinherrscher stützten und ihm schmeichelten, wurden zu Nutzniessern eines Marktes, der zu ihren Gunsten verzerrten wurde. Dies hatte zur Folge, dass die Begünstigten rasch sehr reich wurden. Dies auf Kosten der nicht begünstigten riesigen Mehrheit. Was noch schwerer wiegt: Das gesamte wirtschaftliche und intellektuelle Leben wurde blockiert, und zwar von der Bürokratie und der politischen Polizei, die ganz von den Mächtigen und vom Geldmonopol beherrscht wurden.
Es geht um die Würde
Der Prozess war kumulativ, das heisst er wuchs immer mehr und immer schneller, je länger er dauerte. Nachdem die Alleinherrscher 30 Jahre lang an der Macht waren, also eine volle Generation lang, scheint der Prozess an einen Wendepunkt gelangt zu sein. Die neuen Technologien beschleunigten die kumulativen Vorgänge.
So gelangte die junge Generation immer mehr zur Erkenntnis: „Wir brauchen ein Mitspracherecht. Wir wollen die Machthaber kontrollieren – egal, was die Patriarchen mit ihrer nationalistischen oder islamischen Ideologe darüber denken“.
Und sie betonen: „Ohne eine solche Mitsprache und Kontrolle wird unser Leben unerträglich“. Diese Grunderkenntnis wird unter dem Schlagwort „Würde“ zusammengefasst, eine Würde, die man verloren hat und die es zurückzugewinnen gilt.
Doch der Revolutionsprozess verläuft nicht gradlinig. Sein erster Akt, der Machtwechsel, wurde bisher nur in Tunesien und in Ägypten abgeschlossen. In Ägypten allerdings nur teilweise, weil die Armee – wie sie sagt – „vorübergehend“ die Macht übernommen hat.
Noch nicht gelungen ist die Machtübernahme in Jemen, Libyen, Jordanien, Syrien, Palästina, Irak, Saudi-Arabien, Oman, Kuwait und den UAE. Die Auflehnung wurde in Bahrain (mit saudischer Hilfe) niedergeschlagen. Doch die Ideen, die sich in Tunesien und Ägypten durchgesetzt haben, sind auch in allen anderen Ländern präsent. Sie werden auch dann wirksam bleiben, wenn sie sich nicht unmittelbar durchsetzen können.
Zweiter Akt in Ägypten
In Tunesien und in Ägypten hat der zweite Akt begonnen, die Verwirklichung eines echten demokratischen Systems. Der Aufbau erweist sich als schwieriger als wohl von den meisten der Aktivisten erwartet.
Er stösst auf Widerstand der bisher Privilegierten. Der Aufbau eines Parteiwesens sowie die Bildung einer demokratischen Mentalität benötigen zudem Zeit. Die Bevölkerungen jedoch wollen bald Resultate des Umsturzes sehen. Sie verlangen den Beginn eines besseren Lebens.
Der gesamte Prozess steht gegenwärtig im Schatten der Entwicklung in Libyen. Dort ist ein Bürgerkrieg ausgebrochen. Fremde Mächte sahen sich veranlasst, einzugreifen. Dies schürt in den andern arabischen Ländern die Angst vor einem Bürgerkrieg.
All das gibt jenen, die sich in den arabischen Ländern an die Macht klammern, neuen Mut. Je schlechter der Aufstand in Libyen vorankommt und je besser die Chancen für Ghadhafi stehen, desto weniger sehen sich die alten Machthaber veranlasst, nachzugeben.
Doch die Saat wurde gesät. Der emanzipatorische Prozess ist in Gang gekommen. Die Forderungen nach Mitsprache und Machtkontrolle stehen im Raum. Lang- oder gar mittelfristig werden sich die neuen Ideen durchsetzen. Je nach Land wird dieser Prozess mehr oder weniger lang und mehr oder weniger blutig verlaufen.
Eines hat die neue Bewegung deutlich gemacht: Die Alleinherrscher werden ihre Macht nicht weiter festigen können. Diese Epoche ist endgültig vorbei.