Mehr als 17’700 Tote hat der israelische Kampf gegen die Hamas bisher gefordert. 48'800 Menschen sind verwundet. Schon mehr als zwei Monate dauert nun der Krieg, dessen Ziel es nach israelischen Angaben ist, die Hamas zu liquidieren. Bisher wurde vor allem die Zivilbevölkerung liquidiert. Noch wurde, soweit bekannt, kein Hamas-Chef getötet.
Städte, Dörfer und ganze Landstriche liegen in Schutt und Asche. Die humanitäre Lage ist nach Uno-Angaben vom Freitag «katastrophal». Der Vizedirektor des WFP, des «World Food Programms», erklärte am Freitag nach seinem Besuch im Gazastreifen, die Situation sei «unhaltbar». Die Uno meldet am Sonntag, dass «die Hälfte der Gaza-Bewohner Hunger leidet». Laut einer israelischen vom «Guardian» veröffentlichten Studie sind 61 Prozent der Menschen, die bei den Bombenangriffen ums Leben kamen, Zivilisten. «Der Anteil der Zivilisten an den Todesopfern ist höher als in allen anderen Konflikten des 20. Jahrhunderts», berichtet die kritische, liberale israelische Zeitung Haaretz. Nach Angaben des Hamas-Gesundheitsministeriums sind 45 Prozent der Getöteten Kinder. Überprüfen lassen sich diese Angaben nicht. Agence France-Presse spricht am Sonntag von einer «apokalyptischen humanitären Situation».
Immer mehr fragen sich auch Menschen, die Israel wohlgesinnt sind: Ist es das alles wert? Die Bilder von den Toten und von verwüsteten Gegenden bringen Israel weltweit einen schmerzhaften Image-Verlust, von dem sich das Land Jahre oder vielleicht Jahrzehnte lang nicht erholen könnte.
Die Saat wird Israel noch lange quälen
Zudem stellen sich auch Israel-freundliche Experten immer häufiger die Frage: Kann die Hamas liquidiert werden? Vielleicht ja, aber die israelischen Feinde bleiben, und es werden deren immer mehr. Der Krieg, den Israel im Gazastreifen führt, das Elend, das er heraufbeschwört, schafft neuen Hass, neue Wut und vor allem Tausende, Zehntausende neuer potentieller Kämpfer – ob sie nun unter dem Label «Hamas» kämpfen oder unter einem anderen Namen, spielt keine Rolle. Die Saat, die Israel hier sät, wird das Land noch lange quälen. Zudem sind die zarten Bande, die in jüngster Zeit zwischen einigen arabischen Staaten und Israel geknüpft worden sind, zerrissen.
Dass Israel nach dem Massaker vom 7. Oktober mit seinen 1200 Toten und 240 Verschleppten zurückschlägt, ist verständlich. Was die Hamas-Mörder angerichtet haben, darf nicht ungesühnt bleiben. Es handelt sich um eines der schrecklichsten Verbrechen seit dem Zweiten Weltkrieg. Nicht vergessen sei: Hamas deklariert offen, den jüdischen Staat zerstören zu wollen.
«Wut ist ein schlechter Ratgeber»
Über eine politische Lösung des Nahostkonflikts kann man mit Terroristen nicht verhandeln. Hamas hat nie einen vernünftigen Vorschlag zur Lösung des Problems eingebracht. Netanjahu allerdings auch nicht. Er fördert im Westjordanland den Siedlungsbau und setzt auf Salamitaktik. Weder mit ihm noch mit Hamas kann es Frieden geben, und deshalb auch rückt ein palästinensischer Staat oder Teilstaat in weite Ferne.
Im Nachhinein ist es einfach zu sagen, Israel hätte sich die Konsequenzen des flächendeckenden Zuschlagens mit mehr Bedacht überlegen sollen. Der Zorn über den Hamas-Terror und die 1200 israelischen Toten war eben so gross, dass man sich zu einer Rache-Aktion hinreissen liess, ohne dass man die Folgen und die internationalen Reaktionen in Rechnung zog. Aber, wie Präsident Biden sagte: «Wut ist ein schlechter Ratgeber».
Wo ist Yahya Sinwar, der Hamas-Chef im Gazastreifen?
Netanjahu, die israelische Regierung, der israelische Sicherheitsapparat liessen sich am 7. Oktober derart übertölpeln, dass Zorn und der Drang nach Rache keine Grenzen kannten. Israel wollte möglichst schnell den weltweiten Imageverlust mit einem militärischen Sieg wettmachen. Netanjahu kämpft um seinen Ruf und sein politisches Überleben. Doch ein militärischer Sieg ist in weiter Ferne.
Was hat Israel mit seiner modernen Hightech-Armee und seinem einst hochgelobten Geheimdienst in zwei Monaten Krieg militärisch erreicht? Wo ist diese unterirdische Kommandozentrale der Hamas, die man zerstören will? Wo sind die Hamas-Führer, deren Tod Netanjahu versprach? Wo ist Yahya Sinwar, der Hamas-Chef im Gazastreifen? Wo ist Kommandant Mohammed Deif? Oder Marwan Issa? Die Bombardierungen und Kämpfe haben jetzt den südlichen Gazastreifen erreicht. Vielleicht gelingt den Israeli dort ein entscheidender Schlag gegen die Hamas.
Die Diskussionen über die Ereignisse im Gazastreifen könnten vergifteter nicht sein. Vergiftet sind sie schon seit Jahren, aber jetzt haben sie einen neuen Höhepunkt erreicht.
Ambivalente Rolle der USA
Sollen die Medien keine Bilder leidender Kinder und Frauen im Gazastreifen zeigen? Keine Toten, keine Verletzten? Natürlich schlachtet die Hamas solche Bilder aus. Netanjahu-Kreise werfen vielen Medien vor, auf die Tränendrüsen zu drücken und mit solchen emotionalen Bildern anti-israelische Propaganda zu schüren. Aber dieses Leiden existiert, diese Bilder gibt es. Soll man zugunsten von Netanjahu Selbstzensur üben?
Die USA spielen eine ambivalente Rolle: Einerseits warnen sie Israel immer wieder, das humanitäre Völkerrecht zu respektieren und kritisieren – zumindest zwischen den Zeilen – die Bombardierungen ziviler Ziele. Laut Medienberichten sind da ganz klare, teils harsche Worte gefallen. Andererseits blockierte Washington am Freitag eine Uno-Resolution, die einen «humanitären Waffenstillstand» verlangt. Damit kommt Biden dem «Freund Israel» entgegen. Der Präsident ist ein Jahr vor den Wahlen in einer verzwickten Lage. Einerseits darf er die jüdischen Wähler nicht verlieren, andererseits haben 2020 in mehreren «Swing States» arabische und muslimische Wähler und Wählerinnen Biden zum Sieg verholfen. Die Gefahr ist gross, dass Biden jetzt zwischen Tisch und Stuhl fällt.
Beim Antisemitismus gibt es keine Toleranz.
Eine schreckliche Begleiterscheinung dieses Konfliktes ist das neue Erwachen des Antisemitismus. Seine Virulenz ist sowohl erschreckend als auch erstaunlich. Ist die Menschheit nicht gescheiter geworden? Überall tauchen antisemitische Parolen und Schmierereien auf. Auch in der Schweiz, auch an Schulhäusern in Zürich. Achtzig Jahre nach dem Holocaust, einem der schrecklichsten Verbrechen in der Menschheitsgeschichte, wird wieder antijüdischer Irrsinn verbreitet.
Wir sollten nicht aufhören, diesen Antisemitismus klipp und klar zu verurteilen. Da könnten Politiker und Politikerinnen mehr tun, auch Lehrerinnen und Lehrer.
Netanjahu gehört in die Gerümpelkammer der Geschichte.
Netanjahu ist längst ein «Dead Man Walking». Er gehört in die Gerümpelkammer der Geschichte. Er würde auch mit dem Teufel einen Pakt schliessen, wenn es ihm nützte. Liberale Juden bezeichnen ihn als «Totengräber». 80 Prozent der befragten Israeli sehen den Ministerpräsidenten in einer Umfrage als Mitverantwortlichen für die Massaker der terroristischen Hamas. Dies geht aus einer Umfrage der konservativen israelischen Zeitung «Ma’ariv» hervor.
Dass nach siebentägiger Waffenruhe die Israeli täglich wieder Hunderte Bomben abwerfen, wird auch in Teilen der israelischen Bevölkerung nicht gutgeheissen – vor allem nicht unter den Angehörigen der immer noch festgehaltenen Geiseln. Denn: Keine Waffenruhe bedeutet: keinen Geisel- und Gefangenenaustausch.
«Atombombe auf den Gazastreifen»
Es geht nicht nur um Netanjahu. Ebenso soll erlaubt sein, seine teils rechtsextreme Regierung an den Pranger zu stellen. Dazu gehört der rassistische, aufwiegelnde Minister für nationale Sicherheit, Itamar Ben-Gvir, der wegen Unterstützung einer terroristischen Organisation verurteilt wurde. «Wir verurteilen die hetzerischen Äusserungen von Minister Ben-Gvir aufs Schärfste», hatte im August ein Sprecher des US-Aussenministeriums erklärt. Oder Amichai Elijahu, Minister für Kulturerbe, der es als «Option» bezeichnete, eine Atombombe auf den Gazastreifen zu werfen. Oder Kommunikationsminister Shlomo Karhi, der die liberale Zeitung «Haaretz» wegen ihrer kritischen Berichterstattung bestrafen will. Oder Finanzminister Bezalel Smotrich von der rechtsextremen Religiös-Zionistischen Partei. Er gilt als glühender Verfechter des Siedlungsausbaus im besetzten Westjordanland.
Und es soll auch gestattet sein, die teils rechtsextremistischen, ultraorthodoxen, fanatischen israelischen Siedler im Westjordanland zu verurteilen – sie, die mehrere hundert Palästinenser umgebracht haben, Brunnen vergiften und Beduinen vertreiben. Netanjahu lässt sie alle gewähren.
«Die unfähigsten Regierung, die Israel je hatte, der unfähigste Premierminister»
All das ist keine «antisemitische Kritik». Das ist keine Kritik an Israel als Staat, keine Kritik an den Israeli oder den Juden – das ist Kritik an Extremisten und an der Regierung, an Netanjahu. Jüdische Intellektuelle sprechen längst von der «unfähigsten Regierung, die Israel je hatte». Und vom «unfähigsten Premierminister» 1)
Und wenn Uno-Generalsekretär António Guterres einen Waffenstillstand fordert und deshalb von Jair Lapid, dem Oppositionsführer als «Antisemit» verteufelt wird, dann kann man nur den Kopf schütteln. Guterres hat es schlicht nicht mehr ertragen, dass täglich Hunderte unschuldiger Menschen sterben. Dies zu verhindern gehört zum Job eines Uno-Generalsekretärs. Ist man antisemitisch, wenn man den Tod Tausender Frauen, Kinder und Männer betrauert und verhindern will?
Vorsicht beinm Schwingen der Antisemitismus-Keule
Viele Leute, die zu hundert Prozent für den Staat Israel und die Juden sind, die mit Überzeugung möchten, dass die Juden endlich nach zweitausendjähriger Verfolgung einen sicheren Hafen haben, die das Land, seine Kultur und seine Bevölkerung lieben – diese Leute haben es satt, von israelischen und jüdischen Lobbys als «Antisemiten» bezeichnet zu werden, nur weil sie den völlig disqualifizierten Ministerpräsidenten Netanjahu und seine rechtsextreme Clique kritisieren und das Elend im Gazastreifen beklagen. Etwas mehr Selbstkritik täte diesen Kreisen gut. Dazu gehören auch israelische Botschafterinnen und Botschafter in aller Welt. Beim Schwingen der «Antisemitismus»-Keule sollten diese Lobbys etwas vorsichtiger sein. Etwas differenzierter.
1) Der (jüdische) britische Historiker Simon Sebag Montefiore in einem NZZ-Interview
PS: Die Zahl von getöteten 17’700 Palästinenser und Palästinenserinnen stammt vom Gaza-Gesundheitsministerium, das von der Hamas kontrolliert wird. (Stand: Samstagabend, 9. Dezember). Die Erfahrung zeigt, und amerikanische und Uno-Quellen bestätigen dies, dass die Verlautbarungen des Hamas-Gesundheitsministeriums bisher weitgehend akkurat waren.