Dem Gebaren der EU-Politiker wohnt etwas Entlarvendes und Entblössendes inne. Direktdemokratische Plebiszite werden gescheut wie das Weihwasser vom Teufel. Denn obwohl sich die Brüsseler Politik immer mehr von den Bürgern abkoppelt, scheint in der EU-Führungsriege ein diffuses Wissen über die wirkliche Stimmung im Volk vorhanden zu sein, was durch in der ganzen EU erzielte Wahlerfolge europaskeptischer – allesamt rechtspopulistisch in EU-Terminologie – Parteien noch verstärkt wird. Wie leicht kann da das Volk zu einer falschen, sprich nicht Brüssel-konformen Entscheidung gelangen.
Verführerisches Beispiel eines Nicht-EU-Landes
Volksentscheidungen werden daher höchst argwöhnisch betrachtet, da sie die demokratische Schwächen der Europäischen schonungslos offenlegen: Zum strukturellen Demokratiedefizit – die beinahe allmächtig erscheinende EU-Kommission verfügt praktisch über keine demokratische Legitimation – kann sich die offensichtliche Geringschätzung oder gar Missachtung des Wählerwillens gesellen. So geschehen bei der Abstimmung in Irland über den Vertrag von Lissabon: Ein Plebiszit innerhalb der Europäischen Union ist äusserst selten und fällt es dann nicht im Sinne Brüssels aus, wird eben nachgedrückt und nochmals abgestimmt, bis das Volk sich „richtig“ äussert. Demokratieverständnis nach Brüsseler Leseart.
Die Völker Europas indessen haben diese Spielereien längst durchschaut und sind der politischen Farce überdrüssig, wie die EU-Zustimmungsraten und die sehr dürftig ausfallende Beteiligungen an den Europaparlamentswahlen regelmässig illustrieren. Wie verführerisch muss es da sein, von einem kleinen Nicht-EU-Land zu lesen, in dem es jährlich zu mehreren Volksabstimmungen kommt, weil die Regierung entweder per Verfassung zu einem Referendum verpflichtet ist oder aber eine relativ kleine Anzahl von Stimmbürgern die Abstimmung über eine beinahe x-beliebige Sache erzwingen kann? Wie verlockend muss für einen EU-Bürger die Kunde sein, dass nach Urnengängen die jeweiligen Abstimmungsverlierer zwar enttäuscht sind, jedoch niemand den Entscheid des Souveräns auch nur ansatzweise in Frage stellt?
In dieser Demonstration des Funktionierens einer direktdemokratischen Staatsordnung liegt denn auch der wahre Stachel, der tief im Fleisch des Brüsseler Apparats steckt. Es ist die Angst, dass der breiten EU-Öffentlichkeit bewusst wird, dass es einem Land mit direktdemokratischen Strukturen
und ausserhalb der Europäischen Union besser gehen kann, als einem Mitgliedstaat. Und vor allem ist es die Furch davor, dass die EU-Völker die Lust an der stärkeren Mitsprache entdecken. Darin liegt einer der Hauptgründe für den, Wunsch eine Signalwirkung unbedingt zu unterbinden.
2017 stimmen die Briten über den EU-Verbleib ab
Eine Signalwirkung für die paar Wenigen, die etwas zu sagen hätten. Man überlege: Maximal drei Jahre haben Bundesrat und Parlament Zeit, um den Initiativtext in entsprechende Gesetze zu überführen. Das wäre somit spätestens 2017. In diesem Jahr war doch etwas? Richtig. 2017 stimmen die Briten über ihren Verbleib in der Europäischen Union ab. Wenn im Vorfeld dieses wegweisenden Plebiszits nun die konkrete Umsetzung der Masseneinwanderungsinitiative die europäische Öffentlichkeit wieder aufs Neue beschäftigt, kann man sich die Auswirkungen auf das Entscheidungsverhalten der sowieso schon europakritischen Briten selbst vorstellen. In einer Abstimmung, die für Europa zu Schicksalsfrage werden könnte.
Denn wenn bereits der Abstimmungsentscheid eines Nicht-EU-Landes zur Frage der bilateralen Zusammenarbeit einen solchen Wirbel entfacht, dann ist leicht auszumalen, was der Austrittsentscheid eines der wichtigsten EU-Länder und somit auch des wichtigsten EU-Finanzplatzes bewirken würde. Es wäre die politische Kernschmelze im sowieso schon chronisch überhitzten EU-Reaktor. Der Schweizer Entscheid, die Personenfreizügigkeit zu begrenzen hat vor diesem Hintergrund zu einem weiteren Temperatur-Anstieg geführt und damit die Wahrscheinlichkeit eines Super-GAUs nicht eben verringert.
EU-Errungenschaften – eine Mär?
Die unter den Augen der EU-Öffentlichkeit durchgeführte Masseneinwanderungsabstimmung hat die Büchse der Pandora weit geöffnet, was das aktive Hinterfragen der Brüsseler Regulierungs-Auswüchse und des offensichtlichen EU-Wunschdenkens betrifft. Denn das Vertrauen in die EU-Institutionen, in deren Beteuerungen und deren angeblichen Errungenschaften haben die Bürger Europas schon längst verloren. Zu sehr spricht die alltägliche und reale Welt eine andere Sprache, als jene der Funktionäre im fernen Brüssel: Der Euro gilt als ein Fehlkonstrukt, dass über die viel zu tiefen Zinsen für die Peripherieländer entscheidend zu der gewaltigen Verschuldung der heutigen Krisenländer beigetragen hat. Die Wirtschaft in der EU befindet sich trotz den jüngsten zarten Erholungsanzeichen immer noch auf sehr wackeligen Füssen; die Arbeitslosigkeit verbleibt auf rekordhohem Niveau; die Jugendarbeitslosigkeit befindet sich etwa in Griechenland oder in Spanien auf einem gefährlichen Niveau von rund 50 Prozent. Eine ganze Generation blickt dort ohne Perspektiven in die Zukunft – ein gesellschaftliches Pulverfass. Wo sind die Errungenschaften der EU?
EU-Politiker verweisen an dieser Stelle gerne auf den Frieden, welche die Europäische Integration dem von zwei Weltkriegen verwüsteten Kontinent gebracht habe. Doch auch hier ist der Verdienst der EU stark zu relativieren. Denn erstens dürfte für lange Zeit die amerikanische Militärpräsenz der prägendere Faktor für Europas Frieden gewesen sein, als die EU und ihre Vorgänger-Institutionen. Das einigermassen friedliche Nebeneinander der Völker wurde nicht etwa durch EU-Diplomatie erreicht, sondern viel eher im Schlepptau der Weltgeschichte durch amerikanische Bomber und Raketen gewährleistet.
Und zweitens nimmt die Zahl der symmetrischen Kriege zwischen zwei oder mehr Staaten nicht nur innerhalb der Union sondern weltweit stetig ab; diese bilden heute die Ausnahme bei den gewalttätigen Auseinandersetzungen. Viel häufiger sind innernationale asymmetrisch geführte Konflikte unterhalb der Kriegsschwelle, und davon war auch die EU nicht gefeit: Man denke etwa an den aktiven Kampf der baskischen ETA oder an die bürgerkriegsähnlichen Zustände in Nordirland. Und als auf dem Balkan vor der Haustüre Europas das Morden und Vergewaltigen losging, war die Europäischen Union weder in der Lage noch einheitlich willens, dem menschverachtendem Treiben Einhalt zu gebieten.
GASP – mehrheitlich inexistent
Womit ein weiteres nicht gehaltenes Versprechen angesprochen ist: Die Gemeinsame Aussen- und Sicherheitspolitk GASP. Diese ist nach wie vor mehrheitlich inexistent; die EU wird auf dem Internationalen Parket der Krisendiplomatie sehr selten als einzige Stimme wahrgenommen. Ja, man wünscht sich, dass die Brüsseler Reihen im Umgang mit der Ukrainischen Staatsführung ebenso geschlossen wären, wie bei den Reaktionen auf den Schweizer Abstimmungsausgang. Aber wer es sich zu sehr mit der prorussischen Regierung verscherzt, der verspielt es sich auch bald einmal mit Vladimir Putin und das möchte die Europäische Union angesichts der gewaltigen russischen Gas- und Öllieferungen nun doch wieder nicht riskieren. So einfach ist das.
In den Befürchtungen Brüssels, dass das Schweizer Volksverdikt ein Signal sein könnte, die heruntergebetenen Errungenschaften der Europäischen Union tatsächlich zu hinterfragen und daraus entsprechende Konsequenzen zu ziehen liegt die eigentliche europapolitische Tragweites des vergangenen Abstimmungssonntags. Sie gipfelt letztlich in der Sorge, dass sich die europäischen Bürger daran erinnern, dass die Geschichte dieses wunderbar vielfältigen Kontinentes nicht nur einige der dunkelsten Kapitel der Menschheit enthält, sondern lange vor der EU und ihren Funktionären unzählige zivilisatorisch grossartige Ideen und ebenso grossartige Denker hervorgebracht hat.
Eine neue Aufklärung?
Die Grundzüge der Demokratie wurden ebenso in Europa geboren wie auch etwa der Aufklärer Immanuel Kant. Die Aufklärung sei nichts anderes als der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit, war der Philosoph überzeugt. Vielleicht ist es rund 200 Jahre nach Kants Tod wieder an der Zeit für eine neue Aufklärung. Auf dass ein wirklich geeintes Europa auf Basis des freien Willens der Völker entstehen kann und nicht nur ein aufgeblähter und aufoktroyierter Bürokratie-Gigant.
(Teil 1 dieser Lageanalyse ist im Journal21 am Donnerstag, 13. Februar, erschienen.)