Von Carl Bossard
Alles redet über Bildung. Vom Kampf um Bildungsressourcen ist die Rede, von Bildungsexpansion, gar von Bildungsoffensive. Die Sprache zeigt sich militant.
Ausbildung statt Bildung
Doch allen Postulaten und Parolen zum Trotz – die Tendenz ist eindeutig: Die Wissens- und Informationsgesellschaft reduziert Bildung auf Ausbildung. Spätestens seit PISA und Bologna dominiert der Effizienzimperativ; gefragt sind direkt anwendbare Kompetenzen. Sie gehorchen dem Diktat der aktuellen Verwertbarkeit – und machen Kinder und Jugendliche, pointiert und als These formuliert, zu Puppen des Zeitgeistes.
Die Philosophen haben die Schule den Pädagogen überlassen, schreibt der Jurist Bernhard Schlink in seinem Roman „Der Vorleser“. Und heute den Ökonomen und Empirikern, würden wohl einige sibyllinisch beifügen. Grund genug zu fragen, warum „die öffentlichen Schulen nicht daran interessiert sind, gebildete Menschen hervorzubringen“, wie der Philosoph Robert Spaemann nüchtern festhält. Ein Blick auf die aktuelle Entwicklung tut not.
Nutzen und Profit
Im „PISA“-Zeitalter untersteht vieles der Logik der Ökonomie. Der Mensch muss marktfähig und marktförmig sein. Die PISA-Studie selbst zielt ja auf den Homo oeconomicus. Es geht um die materiellen Bedingungen des Lebens, um Nutzen und Profit. Der Test soll darum bei 15-Jährigen jene Kenntnisse und Fähigkeiten messen, „die für das tägliche Leben relevant sind.“
So fordert es die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung OECD. Darum ist es nichts als konsequent, dass PISA einen reduktiven Kompetenzbegriff ins Zentrum stellt und nicht von Bildung spricht. Der Ausdruck ‘Bildung‘ passt nicht in diese Konzeption.
Vom vermessenen Wahn, alles zu messen
Das Wesentliche der pädagogischen Aufgabe aber besteht in der Persönlichkeitsentwicklung - und damit in der Kunst des Ermöglichens - mit den individuellen und sozialen Prozessen des Wahrnehmens und Sich-Ausdrückens, des Suchens und Ordnens, des Nachdenkens und Problemlösens. Die Schule soll lehren, wie man denkt – und nicht, was man denkt. Das nennt sich divergentes Denken.
Heute zielt fast alles auf Steuern und Lenken. Hinter diesem Begriffspaar verbirgt sich eine der zentralen Kategorien des neuen Bildungsverständnisses. Die Dominanz der Steuerung im Sinne soziökonomischer Funktionstüchtigkeit kanalisiert und dynamisiert Lehren und Unterrichten; dieser Primat segelt unter dem Vorzeichen von Qualitätsentwicklung, Qualitätsmanagement und Evaluation. Kompetenzstandards normieren den Output von Lern- und Ausbildungswegen. Die erwarteten und als relevant bezifferten Bildungseffekte werden in ein testfähiges Format transformiert; mit den Messmethoden der empirischen Bildungsforschung sind sie erfassbar und kontrollierbar. So wird Bildung geplant und gesteuert, limitiert und formatiert, in Ankreuztests und Messung reproduziert. Die Resultate münden nicht selten in Rankings.
Bildung ist Kultivierung, nicht Konditionierung
Wenn man Lernen und Bildung mit Messbarkeit koppelt, dann impliziert das in letzter Konsequenz den Ausschluss von metaphysischen Problemen aus dem Bildungsbegriff. Denn wie lässt sich eine kognitive, soziale, emotionale Persönlichkeitswerdung und Urteilfähigkeit (ver-) messen? Gemäss „Lehrplan 21“ soll sich jedes schulisch vermittelte Wissen als ein Können kontrollieren lassen; der Unterricht orientiert sich an formalen Fertigkeiten. Inhalte verschwinden oder sie werden zu reinen Trainingsobjekten degradiert. Der Bildungsbegriff verliert so jede intellektuelle und wohl auch kognitive und emotionale Attraktivität. Pädagogisch angeleitete Bildung aber ist - jedenfalls im ursprünglichen Sinne -Kultivierung, nicht umfassende Konditionierung.
Bildung bedarf der Inhalte, nicht der blutleeren Abstraktion. Bildung hat mit Wissen und Erkenntnis zu tun. Der Weg dorthin ist zuweilen eine rechte Plackerei und keine Schnellstrasse. Spass allein genügt nicht. Wir brauchen aber Bildung, weil es eine Welt ausser uns gibt. Diese Welt ist uns zunächst fremd. Wir müssen sie uns erschliessen, müssen uns das Fremde aneignen. Die „Welt“ als Metapher für das Fremde, um es mit Wilhelm von Humboldt zu sagen, und Bildung als Wechselwirkung zwischen Ich und Welt.
Bildung folgt keinem „um zu“
Das ist anstrengend und erfolgt nicht nach den Parametern von Effizienz und Nützlichkeit. Wie sonst kann man mit Kindern über Aristoteles‘ Idee eines gelingenden menschlichen Lebens philosophieren? Oder über die Frage, was gerecht und was ungerecht ist? Wie lässt sich ein Hilde-Domin-Gedicht gewinnbringend unterbringen, was zählt Faust im Kontext der Gewinnmaximierung, was das Nachdenken über die Kopernikanische Wende oder die Heisenbergsche Unschärferelation?
Das ist das eine: Bildung als individuelle Verwirklichung der Kultur. Unter Bildung versteht man auch, dass sich eine Persönlichkeit formt, die selbständig denkt, sich so gewissen "Normen" entzieht und die nicht nur äusserlich funktioniert. Das Denken muss über die sogenannten Tatsächlichkeiten hinausreichen. Das Alltags-Gebrauchswissen braucht übergeordnetes ethisch-kulturelles Orientierungswissen. Nur so werden wir eigenständig und damit Gestalter und Autoren unseres Lebens.
Wer Bildung dagegen einseitig vom Bedarf her betrachtet, der generiert Puppen des Zeitgeistes und verfehlt, was mit Bildung gemeint ist. Bildung führt zur Selbstwerdung des Menschen; darum folgt sie in letzter Instanz keinem „um zu“; sie ist kein Mittel zu einem Zweck, sondern vertritt ein Ziel: die Autonomie des Menschen, die Mündigkeit des Einzelnen, die Souveränität des Individuums.
Carl Bossard, Dr. phil., war Direktor Kantonsschule Luzern und Gründungsrektor der Pädagogischen Hochschule PH Zug.