Die Einwände gegen die direkte Demokratie zielen auf die Qualität von Volksentscheiden. Man fürchtet permanente Abstürze, wenn das Volk abstimmt. Gertrude Lübbe-Wolff seziert diese Argumente und erweist sie in aller Klarheit als widersprüchlich und unbegründet.
Wenn das Volk direkt seinen Willen kundtun kann, dann zeigen sich Inkompetenz, Verführbarkeit durch Demagogen, Verschwendungssucht, Fremdenfeindlichkeit und Egoismus. So lauten die wieder und wieder vorgebrachten Befürchtungen. Aber, so fragt Lübbe-Wolff, warum soll das Volk klug genug sein, seine Repräsentanten zu wählen, wenn es doch für Sachfragen viel zu dumm ist?
Höhere Lebenszufriedenheit
Einer der Reize dieses Buches besteht darin, dass Gertrude Lübbe-Wolff das Thema der direkten Demokratie an der repräsentativen Demokratie spiegelt. Beide sind ohnehin miteinander verknüpft. Lübbe-Wolff verfolgt die Entscheidungsmechanismen auf beiden Ebenen und untersucht ihre Wechselwirkungen. Als ehemalige Bundesverfassungsrichterin und Professorin für Öffentliches Recht an der Universität Bielefeld verfügt sie über einen gut bestückten Werkzeugkasten. Sie liebt es, ins Detail zu gehen. Diese Details entfaltet sie allerdings in einen mitlaufenden Anmerkungsapparat, um die Lesefreundlichkeit deutlich zu erhöhen. Trotzdem lohnt sich der Blick in die Anmerkungen, denn dort finden sich zahlreiche Perlen.
Gegen die Unterstellung, dass das Volk für direkte politische Entscheidungen zu dumm sei, führt Lübbe-Wolff mehrere empirische Befunde ins Feld. Denn es zeigt sich, dass vor Volksabstimmungen der Informationsbedarf zunimmt. Das Volk reichert also Entscheidungskompetenz an. Und Studien ergeben, dass es einen direkten Zusammenhang zwischen politischen Mitwirkungsmöglichkeiten und Lebenszufriedenheit gibt. Wenn sich Volksentscheide im Nachhinein als falsch herausstellen, sind sie auch kein zusätzlicher Grund für die weit verbreitete Politikerverachtung.
Entfremdung zwischen Politikern und Wählern
Wiederholt kommt Lübbe-Wolff auf die Entfremdung zwischen den gewählten Politikern und den Wählern zurück. Die hängt damit zusammen, dass Politiker andere Entscheidungskriterien haben als ihre Wähler. Politiker denken an die nächsten Wahlen, ihre Wähler denken an die Folgen von Entscheidungen, die sich vielleicht erst viel später zeigen. Und wenn Politiker Aussenpolitik betreiben wie zum Beispiel im Zusammenhang mit der Europäischen Union, dann möchten sie auf den vielen Konferenzen mit Beitrittskandidaten Erfolge vorweisen, indem sie Hoffnungen wecken, die sich vielleicht als verfrüht erweisen. Volksentscheide in diesen Fragen, so Lübbe-Wolff, orientieren sich dagegen an den Interessen der Betroffenen und sorgen für Verzögerungen, die im Moment als ärgerlich empfunden werden können, sich aber als konstruktiver erweisen.
Warum, so fragt Lübbe-Wolff, gibt es kaum Plebiszite zu Themen der Privatisierung öffentlicher Infrastruktur wie der Stromversorgung oder anderer kommunaler Einrichtungen? Und warum werden Entscheidungen in Bezug auf globale Kooperationen nur von Politikern mit dem Effekt getroffen, dass die Folgen viel zu rasch einsetzen und zum Beispiel Arbeitslosigkeit zur Folge haben, weil der heimischen Industrie viel zu wenig Zeit für Umstellungen bleibt?
Wer löffelt die Suppe aus?
Zum Eigenleben der politischen Repräsentanten gehört auch die Tatsache, dass die Profile der Parteien zunehmend verschwimmen, weil jede Partei möglichst ein breites Spektrum abdecken will. Die Folge für die Wähler: «Das Wählen wird immer schwieriger und zumutungsreicher – so als dürfte man im Supermarkt die benötigten Lebensmittel nicht mehr einzeln kaufen, sondern nur in nach Art eines Geschenkkorbs fertig arrangierten Zusammenstellungen, bei denen vieles den eigenen Bedarf und Geschmack nicht trifft.»
Dagegen haben die Zuspitzungen bei Volksabstimmungen den Vorteil klarer Konturen. Aber liegt darin nicht die Gefahr, dass in diesen Zuspitzungen die «Verantwortung» zu kurz kommt? Für Lübbe-Wolff ist dieses Argument «von allen gegen die direkte Demokratie vorgebrachten Argumenten das kurioseste». Denn der «eigentliche Kern der politischen Verantwortung des Abgeordneten liegt darin, dafür zu sorgen, dass die Wähler nicht von ihrer ‘Sanktionsmöglichkeit’ Gebrauch machen und ihre Stimme einem anderen Kandidaten geben. Bei einer Volksabstimmung wiederum liegt die Verantwortung darin, ‘dass man die Suppe, die man sich selber eingebrockt hat, auch selber auslöffeln muss’.»
Die Brexit-Abstimmung
Deshalb werden Finanzfragen bei Volksabstimmungen defensiver entschieden als von Parlamenten. Lübbe-Wolff zeigt an einigen Beispielen insbesondere in der Schweiz, dass sich dort, wo das Volk abstimmt, grössere Sparsamkeit zeigt. Und sie verkneift sich auch nicht die Bemerkung, dass in solchen Fällen die Steuermoral besser ist.
Aber zeigt nicht das Abstimmungsergebnis zum Brexit, dass das Volk im Bestreben, seine eigenen Plätze und Lebensbereiche abzuschirmen und zu sichern, über das Ziel hinausschiessen kann? Lübbe-Wolff geht mehrfach auf den Brexit ein und kommt zu dem Schluss, dass dieses Votum «schon der Rahmenbedingungen wegen, unter denen es stattgefunden hat, nicht als Argument gegen direktdemokratisches Entscheiden» taugt. Denn «de jure handelte es sich gemäss der britischen Tradition der Parlamentssouveränität um eine unverbindliche Volksbefragung». Mit dieser Volksbefragung versuchte David Cameron, seine innerparteilichen Gegner ruhig zu stellen und seine Wiederwahl im Jahr 2015 zu sichern. «Das Brexit-Referendum gehörte also zum Instrumentenkasten der Regierenden, nicht zu dem der Bürger.» Dabei «spielten grobe Fehlinformationen durch die Amtsträger eine wichtige Rolle».
Das Thema Todesstrafe
In Deutschland sind die Vorbehalte gegen Volksabstimmungen deswegen besonders stark, weil die Machtergreifung Hitlers als warnendes Beispiel für fehlgeleitete Plebiszite angesehen wird. Tatsächlich aber kam Hitler nicht durch Plebiszite an die Macht, sondern er wurde gewählt. Und das fatale «Ermächtigungsgesetz» wurde von den gewählten Volksvertretern im Parlament beschlossen, nicht plebiszitär angenommen.
Im Zusammenhang mit dem Nationalsozialismus geistert eine zweite Befürchtung durch die Debatte: Wenn es nach dem Volk ginge, hätten wir schnell wieder die Todesstrafe. Gertrude Lübbe-Wolff macht nun darauf aufmerksam, dass derzeit in mehr als 50 Staaten weltweit die Todesstrafe praktiziert wird. Die betreffenden Gesetze sind überwiegend nicht auf direktdemokratische Entscheidungen zurückzuführen. Also: Die repräsentative Demokratie ist kein Bollwerk gegen die Todesstrafe. Allerdings gibt es eine Wechselwirkung. Denn in den USA sieht Lübbe-Wolff dort, wo Plebiszite möglich sind, einen Druck auf Politiker, sich bloss nicht gegen die Todesstrafe zu stellen, um nicht an einem Plebiszit zu scheitern.
An diesem, aber auch an weiteren Beispielen analysiert Lübbe-Wolff die Wechselwirkungen zwischen plebiszitären und repräsentativen Elementen der Demokratien. Das ist sehr erhellend. Und ihre Lust an der Argumentation macht die Lektüre überaus anregend und erinnert an ihren Vater, den Philosophen Hermann Lübbe.
Gertrude Lübbe-Wolff: Demophobie. Muss man die direkte Demokratie fürchten? Klostermann Verlag, Frankfurt/Main 2023, 212 Seiten, 24,80 Euro