Dass man Aktien – wenn überhaupt – vorwiegend für die langfristige Vermögensanlage hält, ist hinlänglich bekannt. Dass es daneben Phasen gibt, in welchen nicht nur einzelne Titel, sondern auch der Aktienmarkt insgesamt Rallys hinlegen, welche zur Erzielung kurzfristiger Gewinne (oder zur Vermeidung kurzfristiger Verluste) hätten verwendet werden können (man beachte den Konjunktiv!) ist ebenfalls ein Faktum. Es ist der Tatsache geschuldet, dass die langfristige Entwicklung der Notierungen nicht linear verläuft, sondern ausgesprochen zyklisch. Dies impliziert Phasen positiver und negativer Erfahrungen, die den langfristigen Trend erst ausmachen. Sowohl die langfristigen Trends als auch die kurzfristigen Verwerfungen sind hinlänglich wissenschaftlich untersucht und erklärt worden.
„Free Lunches“
Die langfristigen Trends der Aktienindices reflektieren die Gewinnentwicklung der im Index enthaltenen Unternehmen. Und ebenso bildet die Entwicklung eines einzelnen Titels in aller Regel den auf die einzelne Aktie zugeschriebenen Gewinn (Earning per Share) einer Unternehmung ab. Da nicht alle Unternehmen erfolgreich sind und sich entsprechend immer wieder Veränderungen in den Indizes ergeben, folgt, dass eine Aktienstrategie, die auf breit diversifizierte Portfolios ausgerichtet ist, im Zweifelsfall weniger Schwankungen aufweist als ein Portfolio aus nur wenigen Einzeltiteln. Einzelfirmen können zu Grunde gehen; der Index als Ganzes nicht. Und in der Tat ist Diversifikation einer der wenigen „Free Lunches“, die an den Aktienmärkten zu erzielen sind.
Die kurzfristigen Bewegungen der Aktiennotierungen, die wir in der Folge „Events“ nennen werden, resultieren andererseits aus einer effizienten Verarbeitung und Interpretation eines mehr oder weniger zufällig eintreffenden Cocktails von Informationen, welche für die Unternehmen für wichtig empfunden werden. Zu diesem Cocktail gesellen sich Verhaltensmechanismen von Investoren, die in den letzten Jahren unter dem Stichwort der „Behavioral Finance“ erforscht wurden (erratische Erwartungsänderungen, Herdentrieb, asymmetrische Risikoneigungen u.v.m.). Diese Elemente liefern Erklärungsgrundlagen dafür, dass wir es statistisch gesehen bei der kurzfristigen Aktiendynamik mit nicht-prognostizierbaren Zufallsprozessen zu tun haben. Solche Prozesse sind zwar analytisch schwer durchdringbar, bieten aber vielleicht gerade deswegen die Basis wildester Narrative darüber, wie man wo, wann und auf welche Art und Weise zu investieren hat.
Solche Geschichten sprechen tiefliegende Emotionen und Ängste der potentiellen Anleger an. Dies erkennt man nicht zuletzt an der Art und Weise wie beispielsweise kurzfristige Verwerfungen der Aktienmärkte bei den Medien und der breiten Bevölkerung wahrgenommen und kommentiert werden – als „Events“ eben. Hierzu eine kurze grafische Abhandlung:
Die Abbildung gibt eine Darstellung der Entwicklung des Schweizer Aktienmarktes von 1972 bis 2017 (Pictet-Index, Gesamtrendite, indexiert 1972=100).
Die Rendite liegt bei rund 8% p.a. Sie liegt damit in etwa dort, wo man weltweit den langfristigen Trend von Aktiennotierungen über unterschiedlichste langfristige Perioden in etwa ansiedelt. (1) Wo genau man die langfristige p. a. Rendite ansiedeln will, spielt in unserem Kontext keine Rolle. Entscheidend ist, dass ein langfristiger Trend vorliegt, der sich vernünftig wirtschaftlich erklären lässt (siehe oben). Der dargestellte Pfeil soll diesen Trend repräsentieren.
Positive Phasen werden dagegen kaum beachtet, da „man ja weiss, dass Aktienmärkte langfristig ansteigen“. Diese tief verwurzelte Attitüde asymmetrischer Interpretation positiver und negativer Phasen der Aktienmarktentwicklung führt bei breitesten Bevölkerungsschichten zu einer grundsätzlichen Abneigung der Aktie als Anlagevehikel – auch für die lange Frist. Die Trends werden ausgeblendet, die Events obsiegen.(2)
Entsprechend sieht denn das Bild des Aktienmarktes für Herrn und Frau Jedermann in etwas angepasster Form etwa wie folgt aus:
Der Aktienmarkt liefert in dieser Interpretation fast ausschliesslich eine Aneinanderreihung negativer Events, bei welchem das langfristige Potential (der Trend) den kurzfristigen negativen Emotionen geopfert wird. Da wir in einer Event-getriebenen Gesellschaft leben, definieren diese negativen Empfindungen zu einem grossen Teil die Triebfedern der Vermögensallokation. Kommt hinzu, dass eine quasi schmerzfreie Alternative in Form einer Obligationeninvestition existiert, die sich bildlich wie folgt darstellen lässt:
Der Anstieg des Obligationenportfolios von 100 auf 721 scheint zu genügen um positive Emotionen auszulösen. Zumindest ist dieser Anstieg praktisch frei von negativen Phasen. Die vergangenen Opportunitäten werden nicht zur Kenntnis genommen.
Reputationsrisiken
Die beschriebenen Muster spielen aber nicht nur bei Frau und Herrn Jedermann. Sie haben auch eine polit-ökonomische Dimension. Es ist ja nicht so, dass langfristiges Renditepotential, welches im Produktivkapital der Volkswirtschaft – sprich: Investition in Unternehmenskapital – steckt, nur bei privaten Anlegern ein Mauerblümchendasein fristet. Auch institutionelle Anleger wie Pensionskassen und Versicherungen scheuen die oben beschriebenen „Events“ wie der Teufel das Weihwasser. Dabei wird die kurzfristige Ausrichtung der Anlagen – auch wenn sie langfristige Verbindlichkeiten abzudecken haben – teilweise sogar von Aufsichtsbehörden über Anlagerichtlinien und/oder Rechnungslegungsvorschriften „verschrieben“. Niemand will sich den Reputationsrisiken stellen, die durch kurzfristige negative „Events“ definiert werden. Denn es ist offensichtlich, dass solche Abschwünge gelegentlich länger dauern können als die Geduld von Verwaltungs-, Aufsichts- oder Stiftungsräten. Oder warum sollte sich ein Politiker für langfristig vernünftige Anlagevorschriften einsetzen, wenn er riskiert, dass seine nächste Wahl gerade in einen „Event“ fällt. Jeder hat seine Anreizstrukturen, die in aller Regel kürzerfristigerer Natur sind als die Trends an den Finanzmärkten.
In diesem Kontext könnte der dritte Beitragszahler – die Finanzmärkte – einiges zur Lösung der anstehenden Probleme der Altersvorsorge beitragen. Wenn wir ihn denn nur liessen. Dafür muss man aber erstens verstehen, dass die langfristigen Trends der Aktienmärkte das Innovations- und Gewinnpotential der Volkswirtschaft wiederspiegeln, und man muss zweitens seine Aufmerksamkeit weg von den „Events“ und hin zu den Trends richten. Vielleicht braucht es dazu auch ein wenig Zivilcourage.
(1) Vgl. z. B. DIMSON,MARSH, STAUNTON, Financial Markets Yearbook, 2017
(2) Solches Verhalten hat schon früh Niederschlag in der (vor allem verhaltenstheoretischen) wissenschaftlichen Literatur gefunden. Analysen finden sich in den Arbeiten von Kahneman und Tversky zur sogenannten „Prospect Theorie“. Hier wird beispielsweise nachgewiesen, dass Verluste einen Anleger etwa doppelt so stark „schmerzen“ wie ihn Gewinne „erfreuen“. (u. a.: D. Kahneman und A. Tversky (1979): Prospect theory: An analysis of decision under risk, Econometrica, Vol. 47, No. 2, S. 263-291)