Auf 15 Kilometern staute sich am Samstag der Verkehr vor dem Gotthard-Tunnel. Die meisten der dort wartenden Automobilisten wollten in den Süden, ins sonnige Bella Italia.
Doch im sonnigen Bella Italia ist die Stimmung schlecht. Die Infektionszahlen steigen wieder stark. Die Gefahr, dass einige Regionen bald wieder drastische Einschränkungen einführen, ist gross.
Buchungen: minus 50 Prozent
Dieses Unbehagen führt dazu, dass viele Italiener auf Ferienreisen verzichten. Das zeigen Zahlen des Istat, des italienischen statistischen Instituts. Nur anderthalb Millionen Landsleute wollen dieses Jahr ins Ausland reisen. Ein Negativrekord. Aufgeschreckt wurden sie durch eine drastische Warnung des italienischen Aussenministeriums. Die Reisewilligen werden aufgefordert, bei der Planung von Auslandreisen äusserste Vorsicht walten zu lassen und die Situation und die Entwicklung in den Drittländern genau zu verfolgen. Griechenland, Spanien, Kroatien, Malta und Zypern sind beliebte Feriendestinationen der Italiener. Doch gerade dort ist die Lage beunruhigend.
Laut Fiavet, dem italienischen Verband für Reise- und Tourismusunternehmen, sanken die Buchungsanfragen in der letzten Woche um 50 Prozent. Als am Samstag dann die Meldung verbreitet wurde, dass die griechische Party-Insel Mykonos quasi für Touristen gesperrt werde, war das ein weiterer Tiefschlag für die Touristikbranche.
Angst vor der vierten Welle
Doch nicht nur bei Auslandreisen gehen die Buchungen zurück. Eine ähnliche Entwicklung ist laut Ivana Jelinic, der nationalen Präsidentin von Fiavet, auch im Inland zu beobachten. Viele Italienerinnen und Italiener verzichten aus Angst vor Corona in diesem Jahr auf ihre geliebten Ferien am Meer. Nicht nur in den bekannten Badeorten Forte dei Marmi, Elba, Giglio, Rimini oder Taormina hagelt es Absagen.
Spricht man mit Restaurant- oder Hotelbesitzern, versuchen sie die Sache schönzureden. Alles sei gar nicht so schlimm, die Statistiken seien Schwarzmalerei. Für einen arg gebeutelten Wirtschaftszweig sind solche Ermutigungen zwar verständlich, doch sie überzeugen nicht – und kommen auch nicht an. Umfragen italienischer Fernsehsender zeigen: Die Angst vor der vierten Welle ist allgegenwärtig. Jene, die ihre Ferienpläne nicht annullieren, sagen sich: Profitieren wir noch, solange wir noch können.
Einbruch der Nachfrage
Die Hauptferienzeit in Italien ist der Monat August mit dem Höhepunkt des Ferragosto am 15. August. Dann, so will es die Tradition, gehen „tutti al mare“. Wer an Ferragosta nicht den Fuss ins Meerwasser setzt, ist kein richtiger Italiener, heisst eine alte Weisheit.
Die Menschen müssten sich also jetzt entscheiden, ob sie ein Hotel oder eine Wohnung am Meer buchen wollen. Doch das tun sie nicht. „Wir haben einen Einbruch der Nachfrage erlebt, und die Leute haben beschlossen zu warten“, sagt Ivana Jelinic.
Steigende Infektionen
„Dies ist ein Last-Minute-Sommer“, erklärt sie. Es gebe kaum mehr Vorausbuchungen wie früher, man entscheide sich im letzten Moment. „Alles wird auf die letzte Minute reduziert.“ Man warte ab, wie sich die Zahlen entwickeln.
Und diese Zahlen entwickeln sich nicht gut. Zurzeit werden jeden Tag um 5 bis zu 10 Prozent mehr Infizierte gemeldet. Und natürlich lauert Delta.
Disziplinierte Italiener
Italien meldete bisher fast 4,3 Millionen Corona-Infektionen. Fast 130’000 Menschen sind gestorben. Italien ist nach dem Anfangsschock (Bergamo etc.) nicht schlecht mit der Pandemie umgegangen. Die Menschen sind recht diszipliniert. Proteste, Demonstrationen, „Covidioten“ gibt es in Italien fast nicht. Umfragen zeigen, dass eine überwältigende Mehrheit die Restriktionsmassnahmen der Behörden befürwortet.
In diesem Frühjahr schien es, dass das Virus unter Kontrolle gehalten werden könne. Dann kam Delta, und jetzt steigen die Zahlen wieder. Sie steigen früher, als die Wirtschaft und vor allem die Tourismus-Branche erhofft hatte. Man rechnete damit, dass ein gutes Sommergeschäft die Verluste des Vorjahres teilweise wettmachen könnte.
Rot, orange, gelb, weiss
Die 20 italienischen Regionen sind in Farben eingeteilt. Die Infektionszahlen entscheiden, ob eine Region weiss, orange, gelb oder rot ist. Rot steht für ein grosses, Orange für ein mittleres und Gelb für ein mässiges Infektionsrisiko. In roten Zonen herrscht praktisch ein Lockdown. In orangen Zonen sind Restaurantbesuche verboten, in gelben Zonen ist ein Service in Aussenbereichen der Restaurants erlaubt.
Zur Zeit sind alle Regionen „weiss“. In solchen Zonen sind alle Beschränkungen aufgehoben; es gilt jedoch eine Maskenpflicht im Innern öffentlicher Räume.
Angst vor einem Farbenwechsel
Die Angst in weiten Teilen Italien besteht jetzt, dass wegen der steigenden Infektionen diese oder jene Region orange, gelb oder gar rot wird. Für die Wirtschaft und den Tourismus würde dies schwere Einbussen nach sich ziehen.
Diese Angst, dass sich Weiss rasch in Orange, Gelb oder Rot verwandeln könnte, drückt auf die Buchungswilligkeit. Wer sagt mir, wenn ich jetzt ein Hotel am Meer buche, dass ich in zwei Wochen abends noch ins Restaurant gehen kann?
„Null-Kilometer-Urlaub“
Laut nationalen Umfragen gibt jeder Dritte an, in der eigenen Region (oder zu Hause) bleiben zu wollen. Der Wirtschaftsverband Coldiretti nennt das „einen Null-Kilometer-Urlaub“.
Coldiretti befürwortet dies. Dies sei ein wichtiger Beitrag zur Unterstützung der nationalen Wirtschaft, vor allem in einem Sektor wie dem Tourismus, der von der Corona-Pandemie ganz besonders schwer getroffen worden sei.
„Abriss“
Also: Die Italiener machen Ferien, wenn schon, im Inland. Die einheimischen Hoteliers, Ferienwohnungsvermieter und Restaurants freut das. Was bedeutet das für die ausländischen Touristen? Wird es schwieriger für sie, ein Zimmer oder einen Platz im Restaurant zu finden?
Auf eines müssen sie sich einstellen. Die Preise sind im Vergleich zu früher teils massiv gestiegen. Auch in italienischen Zeitungen ist von „Abriss“ die Rede. Die „lettini“ und „ombrelloni“, die Liegebetten und Sonnenschirme an den Stränden, kosten bis zu 50 Prozent mehr. Unter 15, 20 Euro pro Tag und Person geht gar nichts mehr. In Tropea in Kalabrien zum Beispiel kosten im August zwei Sonnenschirme und zwei Liegebetten zusammen bis zu 100 Euro pro Tag. Viele Italiener versuchen die Verluste des letzten Jahres mit stark überteuerten Preisen zu kompensieren.
Der Verband der Restaurantbesitzer bittet die Gäste: Gebt dem Personal doch etwas mehr Trinkgeld als früher – um die Einbussen des Vorjahres zumindest ein wenig wettzumachen.