Können sich digitale Kameras verselbständigen? Gibt es einen Punkt, an dem der Fotograf nur noch der Bediener einer Technik ist, die ihn lediglich als «Auslöser» braucht? Wo es also völlig egal ist, wer gerade auf den Knopf drückt? Eine neue Entwicklung im Zusammenhang mit Leica regt zu Fragen an.
Die Frankfurter Allgemeine Zeitung hat in ihrer renommierten Rubrik «Technik und Motor» an jedem Dienstag über viele Jahre über die Fortschritte der digitalen Kameras berichtet. In den vergangenen Jahren aber wurden diese Berichte spärlicher, denn die «Fortschritte» der verschiedenen Hersteller waren keine wirklich spannenden Themen mehr. Noch mehr Pixel hier, noch höhere Schärfe und Empfindlichkeit dort, vielleicht hier und da ein etwas raffinierteres Design – womöglich im beliebten Retro-Look. Alles zum Verwechseln ähnlich.
Der ernüchterne Vergleich
In der Ausgabe vom 23. April 2024 aber brachte die FAZ auf der Seite «Technik und Motor» einen Vergleich, der das ganze Spiel auf die Spitze treibt und zum Nachdenken anregt. Es wurde ein Smartphone geradezu provozierend einer sehr teuren Leica gegenüber gestellt. Das Smartphone 14 Ultra des chinesischen Herstellers Xiaomi, ausgestattet mit dem Vierfachkamerasystem von Leica unter dem an beste Tradition erinnernden Namen «Summilux» kostet etwa 1’500 Euro. Die damit verglichene Leica Q3 ist ebenso prestigeträchtig wie der Preis: etwa 6’000 Euro. Um das Smartphone 14 Ultra als Kamera voll ausreizen zu können, benötigt man noch einen Haltegriff von Leica für 200 Euro. Der Witz bei diesem Vergleich besteht im Resultat darin, dass sich die Bilder, die beide Kameras erzeugen, zumindest auf den ersten Blick qualitativ kaum unterscheiden lassen.
Die Autoren, Michael Spehr und Marco Dettweiler, betonen allerdings, dass sie beide Kameras lediglich im Automatik-Modus getestet haben. Wie sollten sie es auch anders machen, um vergleichbare Ergebnisse zu erzielen? Und sie können getrost davon ausgehen, dass die meisten Fotografen diesen Modus nutzen. Und der ist bei beiden Kameras in seiner Leistung fantastisch:
Die richtige Belichtung in den spezifischen Aufnahmesituationen versteht sich von selbst, dazu kommen für die Scharfeinstellung diverse elektronische Tricks, so dass mehrere sich bewegende Objekte automatisch verfolgt und entsprechend berücksichtigt werden. Natürlich gibt es eine Personen- und Augenerkennung. Und selbstverständlich verfügen beide Kameras über Serienbildaufnahmen in atemberaubender Geschwindigkeit.
Eine Leica bleibt eine Leica
Wozu braucht es dafür noch eine Leica, die viermal so viel kostet wie das Smartphone? Und deren Objektive mit vier verschiedenen Brennweiten in diesem Smartphone verbaut sind. Der Trick des «Vierfachkamerasystems» von Leica besteht darin, dass die Elektronik je nach der vom Benutzer gewählten Brennweite das passende Objektiv auswählt – in bester Leica-Qualität. Entsprechend ist der Artikel auf der Seite «Technik und Motor» mit «Leica und Leica» überschrieben. Die Autoren kommen zu dem Schluss, dass aufgrund des geringeren Preises und des überragenden Bedienungskomforts der Laie «mit dem Smartphone besser bedient» ist. Es folgt der etwas kryptische Satz: «Aber eine Leica bleibt natürlich eine Leica.» Was ist damit gemeint?
Die Leica hat die Fotogeschichte geprägt. Die grössten Fotografen und Fotografinnen haben mit dieser Kamera ihre jeweiligen Stile entwickelt – und nicht nur das. Diese kleine und handliche Kamera ermöglichte in ganz neuer Weise, schwierige Aufnahmesituationen zum Beispiel bei Reportagen zu bewältigen. Die Situation änderte sich erst, als die japanischen Spiegelreflexkameras vielseitiger, handlicher und robuster waren. Aber die Leica behielt ihren hohen Rang.
Mit dem Aufkommen der digitalen Fotografie aber geriet Leica in die Krise. Leica konnte speziell der japanischen Konkurrenz mit eigenen Produkten nicht wirklich Paroli bieten. Die Zeit für Leica schien abgelaufen. Es drohte der Konkurs. Der Österreicher Andreas Kaufmann aber stellte das Unternehmen neu auf. Auf der einen Seite war er sich nicht zu schade, Objektive unter dem Namen Leica in die Produkte von Konkurrenten einbauen zu lassen, um damit Umsatz und Gewinn zu machen. Und aus dem Renommee des Markenkerns machte er nach und nach ein Lifestyle-Produkt. Neuerdings bietet Leica auch Uhren und ein «Leitz Phone» an. Aber Andreas Kaufmann achtete frühzeitig darauf, vorzügliche Kompaktkameras zu entwickeln, die zwar teurer als die Konkurrenz, aber auch deutlich besser sind.
Die Schwächen der Leica
Die Produktpalette in den oberen Segmenten fällt nicht nur durch ihre hohen Preise auf. Technisch wird geklotzt, was das Zeug hält. Das heisst aber nicht, dass Leica in technischer Hinsicht der Konkurrenz immer überlegen ist. Dazu gab es peinliche Pannen und Fehler. Aber die Leica-Gemeinde steht fest zu ihrer Marke. Leider hat sich das Design mehr und mehr dem heutigen Massengeschmack angepasst. Wuchtig sollen die Kameras sein, aber nicht zu eckig. Und selbstverständlich sind diese Kameras Statussymbole. Wer eine Q3, durchaus etwas klobig und ziemlich schwer, mit sich führt, kann, wie die Autoren Michael Spehr und Marco Dettweiler schreiben, sicher sein, dass sie, «in der Öffentlichkeit sehr bewusst wahrgenommen wird».
Aber dass man mit einem etwas aufgemöbelten Smartphone Fotos von ähnlicher technischer Qualität wie mit einer teuren semiprofessionellen Kamera hinbekommt, gibt schon einen Stich. Wozu noch eine Leica, ausser um damit anzugeben? Die fotografische Technik ist hypertroph geworden. Sie braucht keine traditionellen Kameras mehr. Und auch keine traditionellen Fotografen.
Schon seit Längerem gibt es eine Rückbesinnung auf die analoge Fotografie. Technisch gesehen tritt man einige Schritte zurück und nimmt Begrenzungen in Kauf, die die digitale Technik weit hinter sich gelassen hat. Diese Begrenzungen verändern den fotografischen Blick. Das ist keine Marotte einiger weniger. Die Nachfrage nach analogen Kameras ist in den vergangenen Jahren gestiegen, und Leica führt immer noch die klassische M6, die 1984 auf den Markt kam. Wer sie anschaut, kann sich von ihr genauso bezaubern lassen wie von einer der schönsten mechanischen Uhren.
Es verändert sich nicht nur der fotografische Blick, sondern auch das Verhältnis zum Bild – beides gehört zusammen. Wer Blende, Belichtungszeit und Entfernung selbst einstellen muss, wobei er die Empfindlichkeit des einmal eingelegten Films nicht nach Belieben verändern kann, nimmt seine Umgebung anders wahr. Denn ein Foto ist nur unter den dafür geeigneten Beleuchtungsverhältnissen möglich. Und man wird nicht beliebig oft auf den Auslöser drücken, denn mit jeder Belichtung verbraucht man Film. Und, nicht unwichtig: Man sieht nicht sofort das Resultat, sondern muss warten, bis der Film entwickelt ist.
Denken in Grauwerten
Benutzt man einen Schwarz-Weiss-Film, kommt noch hinzu, dass man sich beim Fotografieren das Bild in seinen Grauwerten vorstellen muss. Man sieht in gewisser Weise abstrakter, denn Farben als Bildelemente entfallen. Das analoge Fotografieren erfordert gedanklich sehr viel mehr als der schnelle Griff zum Smartphone. Und mit den schliesslich entwickelten und reproduzierten Bildern wird man sich etwas gründlicher als bei den schnell geknipsten digitalen auseinandersetzen: Was habe ich mir dabei gedacht, was ist gelungen, was nicht?
Digitale Kameras erlauben zwar auch das Fotografieren wie in analogen Zeiten. Man kann die Automatiken abschalten und manuell Blende, Belichtungszeit und die gewünschte Entfernung einstellen. Gerade die digitalen M-Modelle von Leica stechen mit diesen Eigenschaften hervor. Und von anderen Anbietern gibt es Retro-Modelle, die mit ihrem Design und den manuellen Einstellungsmöglichkeiten an die analogen Zeiten erinnern. Aber es macht einen grossen Unterschied, ob man mit einem hochgerüsteten digitalen Gerät unter Verzicht auf viele technische Features fotografiert oder mit einem analogen Original. Rein optisch zeigt sich dieser Unterschied bei Leica daran, dass die digitalen M-Modelle klobig sind, an Matronen erinnern und bei weitem nicht an die schlanke Eleganz einer M6 heranreichen. Das Neueste ist eben nicht immer das Faszinierendste.