Sollte Cristina Fernández de Kirchner insgeheim doch gehofft haben, bei der Präsidentschaftswahl 2015 noch einmal um die Gunst der Wähler buhlen zu dürfen, dann muss sie ihre Ambitionen jetzt endgültig begraben. Ihr linksperonistisches Regierungsbündnis Frente para la Victoria (FPV – Front für den Sieg) hat dafür am Sonntag bei der Teilerneuerung des Parlaments, die als Stimmungstest für die Staatschefin galt, zu schlecht abgeschnitten.
Weit weg von der Zweidrittel-Mehrheit
Die Kirchneristas, die seit zehn Jahren Argentiniens Geschicke lenken, brachten es landesweit auf 33 Prozent der Stimmen. Vor zwei Jahren hatte die Präsidentin bei ihrer Wiederwahl noch mit 54 Prozent triumphiert – und sich berechtigte Hoffnungen gemacht, 2015 für eine dritte Amtsperiode antreten zu können. Das ist nun definitiv nicht mehr möglich. Zwar verteidigte die FPV trotz der massiven Stimmeneinbussen die absolute Mehrheit in beiden Parlamentskammern. Eine Wieder-Wiederwahl würde aber eine Verfassungsänderung voraussetzen, und dafür bräuchte es eine Zweidrittel-Mehrheit. Nach ihrem schlechten Abschneiden am Sonntag muss die Regierungspartei sogar froh sein, wenn sie ihre absolute Mehrheit bis zum Ende der Legislaturperiode bewahren kann. Es wäre nicht das erste Mal, dass Abgeordnete das Lager wechseln, wenn die eigene Fraktion auf dem absteigenden Ast sitzt.
Opposition siegt in den grössten Provinzen
Besonders schmerzhaft ist für Cristina Kirchner und ihre Anhänger, dass sie in den fünf grössten Distrikten des Landes Wahlschlappen einstecken mussten. In der Provinz Buenos Aires, die 37 Prozent der argentinischen Wählerschaft stellt und die vor zwei Jahren noch eine Hochburg der FPV war, gewann der dissidente Peronist und ehemalige Kabinettschef Sergio Massa mit mehr als zehn Prozentpunkten Vorsprung auf den Kirchner-Kandidaten Martín Insaurralde. In der Hauptstadt Buenos Aires siegte die konservative Partei PRO des Bürgermeisters Mauricio Macri vor einer Mitte-links-Koalition um den Filmregisseur Pino Solanas. Auch in den anderen bevölkerungsreichen Provinzen Córdoba, Santa Fe und Mendoza hatte die Opposition die Nase vorn. Selbst in Santa Cruz, der Wiege des Kirchnerismus, setzte es für die FPV eine Niederlage ab.
Der Preis der Selbstherrlichkeit
Es gibt viele Gründe für die massiven Stimmenverluste der Regierungsallianz. Immer mehr Argentinier stossen sich daran, dass die Exekutive sich mit der hohen Inflation (sie dürfte in diesem Jahr auf 24 Prozent steigen) arrangiert, anstatt sie zu bekämpfen. Unzufrieden sind sie auch wegen der zunehmenden Kriminalität sowie der von der Obrigkeit verfügten Importrestriktionen und Devisenkontrollen. Der selbstherrliche Regierungsstil der Präsidentin, ihre oft fragwürdigen Personalentscheide, ihre Intoleranz gegenüber Andersdenkenden, die realitätsferne Einschätzung der wirtschaftlichen Lage und ihr Unfehlbarkeitsanspruch dürften ebenfalls nicht unwesentlich zum Rückschlag an der Urne beigetragen haben.
Erste Reaktionen von linientreuen Gefolgsleuten am Sonntagabend lassen darauf schliessen, dass Cristina Kirchner in den verbleibenden zwei Amtsjahren an ihrem stark von staatlichen Eingriffen geprägten Wirtschaftsmodell festhalten und auch ihren Stil kaum korrigieren wird. Grosse Veränderungen sind auch deshalb nicht zu erwarten, weil sie in den ärmeren Bevölkerungsschichten immer noch auf einen starken Rückhalt zählen kann. Auch wenn sich die Tür für eine Wieder-Wiederwahl jetzt definitiv geschlossen hat, wird Cristina Kirchner deshalb nicht einfach die Hände in den Schoss legen, sondern versuchen, in den nächsten zwei Jahren noch möglichst viele ihrer Projekte durchzubringen und bei der Auswahl ihres Nachfolgers ein gewichtiges Wort mitzureden.
Im Augenblick ist sie allerdings zur Untätigkeit verurteilt. Nach ihrer Operation vor drei Wochen, bei der ein Bluterguss unter der Schädeldecke entfernt wurde, verordneten ihr die Ärzte absolute Ruhe. Sie konnte deshalb auch nicht an der Parlamentswahl teilnehmen. Wann sie ihre Amtstätigkeit wieder aufnehmen wird, ist noch ungewiss.
Der steile Aufstieg eines Abtrünnigen
Kaum waren die ersten Ergebnisse der Parlaments-Teilerneuerung bekannt, begannen auch schon die Spekulationen über die Kandidatenkür für die Präsidentschaftswahl 2015. Als einer der aussichtsreichsten Anwärter gilt nach seinem Triumph der Abtrünnige Sergio Massa. Der 41-jährige Bürgermeister von Tigre, einem Vorort von Buenos Aires in der Grösse der Stadt Winterthur, war ein Jahr lang Kabinettschef unter Cristina Kirchner, die 2007 die Nachfolge ihres Ehemanns Néstor angetreten hatte, entzweite sich dann aber mit den Kirchnernistas und kehrte an seine alte Wirkungsstätte zurück. Dort erzielte er vor allem im Kampf gegen die Kriminalität beachtliche Erfolge und führte auch in der Verwaltung Reformen durch, die bei der Bevölkerung gut ankamen. Im Juni dieses Jahr gründete er schliesslich die Frente Renovador (Front der Erneuerung), mit der er nun der Regierungskoalition eine empfindliche Schlappe zufügte.
Noch ist fast alles offen
Trotz dieses beeindruckenden Erfolges ist Massas Weg zum obersten Staatsamt noch weit und mit vielen Hindernissen verbaut. Zwei Jahre sind im schnelllebigen Politgeschäft eine Ewigkeit. Massa wird sich gewaltig anstrengen und vor allem in wirtschaftspolitischen Fragen wesentlich konkretere Alternativen zu den Regierungsprojekten vorlegen müssen als bisher, wenn er seine heutigen Popularitätswerte bewahren oder gar noch steigern will. Er aspiriert schliesslich keineswegs als einziger darauf, 2015 Cristina Kirchner ablösen zu können. Auch Mauricio Macri, der Bürgermeister der Stadt Buenos Aires, der bislang Kirchner-treue Gouverneur der Provinz Buenos Aires, Daniel Scioli, der ehemalige radikale Vizepräsident Julio Cobos, die streitbare Mitte-links-Politikerin Elisa Carrió und der pragmatische Sozialist Hermes Binner, dessen Grosseltern aus dem Oberwallis nach Argentinien ausgewandert waren, rechnen sich Chancen aus.
Damit steht im Augenblick erst soviel fest: Die Ära Kirchner geht zur Neige. Sie hat 2003 mit der Wahl von Néstor Kirchner begonnen. Ihm gelang es, Südamerikas zweitgrösstes Land aus der schweren Krise zu führen, in die es mit dem Finanzcrash von 2001 gestürzt war. Cristina Kirchner führte seine Politik weiter, verlor in der Bevölkerung aber zunehmend an Unterstützung.
Jetzt, bei der Parlamentswahl, die mit dem dritten Todestag von Néstor Kirchner zusammenfiel, haben die Argentinier deutlich zu verstehen gegeben, dass sie einen Wandel anstreben. In welche Richtung er schliesslich gehen wird, lässt sich heute noch nicht absehen.