Was will Deutschlands Kanzler? Diese Frage stellt sich mit Blick auf die Ukraine- und Russlandpolitik des Öfteren. Was hinter der Zögerlichkeit von Olaf Scholz steckt, das bringt der Historiker Heinrich August Winkler in unbequemen Texten zur Sprache, die vor zwei Jahren auch als Buch erschienen sind. Der Kulturhistoriker Philipp Felsch gräbt in «Der Philosoph: Habermas und wir» noch ein wenig tiefer. Zwei interessante Gedanken-Anstösse.
Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD) hat ihren Europa-Wahlkampf mit Bildern von Katarina Barley zusammen mit Bundeskanzler Olaf Scholz bestritten. Und mit dem Slogan: «Frieden sichern». «Frieden sichern? Welchen Frieden?» hat darauf das Nachrichtenmagazin «Der Spiegel» gefragt. Und in seiner neuesten Ausgabe mit der Beobachtung nachgelegt, dass es in der SPD einen deutlichen Gegensatz gebe – zwischen dem Kanzler und seinem Verteidigungsminister Boris Pistorius: «Der eine denkt vom Frieden her, der andere vom Krieg.»
Winklers Wortmeldungen zur Politik
Aufmerksam beobachtet wird das Ganze vom Historiker Heinrich August Winkler. Er hat nicht nur eine mehrbändige «Geschichte des Westens» verfasst und in «Der lange Weg nach Westen» die Entwicklung Deutschlands hin zur Demokratie nachgezeichnet, sondern in Wortmeldungen auch immer wieder die aktuelle Politik historisch beleuchtet – zuletzt in «Nationalstaat wider Willen. Interventionen zur deutschen und europäischen Politik». Und er ist bis heute ein sehr wacher Beobachter jener Partei, der er selber angehört: der SPD, deren Kanzler sich im Ukrainekrieg zwar mit dem Wort von der «Zeitenwende» hervorgetan hat, der aber zugleich immer wieder sehr zögerlich reagiert, wenn es um Waffenlieferungen an die Angegriffenen geht. Stattdessen denkt man in seiner Partei gern über Verhandlungen nach oder empfiehlt ein «Einfrieren des Konflikts», was immer das heissen mag.
Man betrachte «mit wachsender Sorge die Positionierung der SPD zum russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine», hat eine von Winkler angeführte Gruppe von Historikern im März dieses Jahres in einem Schreiben an den SPD-Parteivorstand betont. Die jüngsten Äusserungen des Kanzlers und auch der Parteiführung liessen die «nötige Klarheit und Unzweideutigkeit» vermissen. Putin werde jede Uneinigkeit etwa mit Frankreich «nur als Ermunterung verstehen». Und er werde nur dann zu Verhandlungen bereit sein, «wenn ihm unzweideutig vermittelt wird, dass der Westen seine erheblich grösseren Ressourcen so lange wie nötig einsetzen wird, um eine Niederlage der Ukraine zu verhindern».
Die Wurzeln des Paternalistischen
Was Heinrich August Winkler der SPD und ihrem Kanzler vorwirft, ist Realitätsverweigerung. Doch damit sind sie keineswegs allein. Wo immer Scholz im Wahlkampf hingekommen ist, da ist er auch auf viel Zustimmung gestossen. Und auf eine geradezu überwältigende Friedenssehnsucht, welche die Frage gern übergeht, ob denn die angegriffenen Ukrainer den Frieden auch wollen, den ihnen deutsche Politiker und Intellektuelle seit Kriegsbeginn immer wieder nahelegen. Das hat oft etwas Paternalistisches, und auch dieses Paternalistische hat historische Wurzeln – sogar sehr weit zurückreichende. «Deutschland und Russland: Das scheint eine unendliche Geschichte zu sein», eröffnet Winkler eine seiner Betrachtungen im Buch. Und fährt fort: «Hierzulande mag man es vergessen haben, in Polen aber wird 2022 immer wieder daran erinnert werden: Vor 250 Jahren, im August 1772, begannen Preussen und Österreich zusammen mit dem russischen Zarenreich, Polen unter sich aufzuteilen.» Dieser ersten polnischen Teilung folgten weitere, zuletzt 1939 Hitlers Nichtangriffspakt mit Stalin, dessen geheimes Zusatzprotokoll die Aufteilung Osteuropas unter die beiden Grossmächte regelte.
Die hinter dieser «Schaukelpolitik» zwischen West und Ost steckende Haltung wirkt auch unter den veränderten Vorzeichen seit 1945 nach, auch in der Sozialdemokratie: Als sich nach 1975 in Osteuropa Bürgerrechtsbewegungen bemerkbar machen, antwortet Egon Bahr, Architekt der Ostpolitik des Kanzlers Willy Brandt, auf die Frage, ob die Sowjetunion ein Recht habe, in Polen militärisch einzugreifen: «Aber selbstverständlich.» Und Ex-Kanzler Helmut Schmidt erklärt es im Mai 2014, kurz nach der Annexion der Krim durch Russland, in einem Interview für einen «grossen Irrtum des Westens, dass es ein Volk der Ukrainer gäbe, eine nationale Identität». Und fügt hinzu: «Ich traue Putin nicht zu, dass er Krieg will.»
Putin – «Ein Meister der Desinformation und Einschüchterung»
Seitdem Putin getan hat, was ihm viele nicht zugetraut haben, regiert vor allem ein Gefühl die deutsche Öffentlichkeit: Ängstlichkeit. «Ich habe schon den Eindruck, dass Wladimir Putin ein Meister von Desinformation und Einschüchterung ist», sagte vor wenigen Tagen der Ex-Diplomat Wolfgang Ischinger, lange Zeit Leiter der Münchner Sicherheitskonferenz, im Radio SRF. «Er weiss genau, dass seine gelegentlichen Hinweise auf die Möglichkeit nuklearer Eskalation nirgendwo mehr Angst und Panik auslösen als in meinem Land. Die Deutschen sind besonders ängstlich veranlagt in dieser Frage.»
Warum das so ist, das lässt sich zumindest teilweise am Denken und Wirken eines Mannes erklären, der die Debatten der Bundesrepublik Deutschland über Jahrzehnte geprägt hat: des Philosophen und Soziologen Jürgen Habermas, der in wenigen Tagen 95 Jahre alt wird. Mehrmals hat der Kulturhistoriker Philipp Felsch ihn besucht und einen noch immer sehr präsenten Gesprächspartner vorgefunden, dessen öffentliches Wirken er jetzt in «Der Philosoph: Habermas und wir» beschreibt. Und weil Habermas auch zum Ukrainekrieg Stellung bezogen hat, spielen auch die aktuellen weltpolitischen Verwerfungen eine Rolle in diesem Buch, das in gewissem Sinn eine Mentalitätsgeschichte der Bundesrepublik nachzeichnet.
Habermas mahnt – und erntet Widerspruch
Es ist die Geschichte einer Nation, die nach 1945 nachholt, was sie vorher verpasst hat. Die zur Demokratie wird und die sich des Menschheitsverbrechens des Holocaust bewusst wird. Die das Friedliche gewissermassen verinnerlicht und die alles Nationalistische ablehnt. Habermas begleitet die Debatten in «Strukturwandel der Öffentlichkeit» und «Theorie des kommunikativen Handelns». Er betont, wie wichtig eine supranationale Einbindung seines Landes ist und wie wichtig die europäische Einigung.
In Deutschland, erklärt er zur Verteidigung des zögerlichen Handelns von Bundeskanzler Olaf Scholz im Ukrainekrieg, habe sich nach dem Zweiten Weltkrieg das «postheroische» Bewusstsein ausgebildet, «dass internationale Konflikte grundsätzlich nur durch Diplomatie und Sanktionen gelöst werden können». Diese Haltung, begründet auch in der Verfügungsmacht Putins über Atomwaffen, hat lebhaften Widerspruch hervorgerufen. Etwa jenen des US-Historikers Timothy Snyder, der erklärt hat, Habermas argumentiere «aus der Perspektive eines sentimentalisierten Westdeutschlands der 1970er Jahre».
Sind also andere Zeiten angebrochen? Zeiten, in denen der Friedliche das Opfer eines Angriffskrieg nicht nur mit diplomatischen Mitteln, sondern mit Waffen unterstützen muss? Und in denen die Länder Westeuropas wieder «kriegstüchtig» werden müssen, wie Boris Pistorius, Deutschlands Verteidigungsminister, nicht müde wird zu erklären? All das, was sein Leben ausgemacht habe, gehe gegenwärtig «Schritt für Schritt» verloren, sagt Jürgen Habermas in einem letzten Gespräch mit Philipp Felsch im September 2023. Da mag er recht haben.
Heinrich August Winkler: Nationalstaat wider Willen. Interventionen zur deutschen und europäischen Politik. München: Verlag C. H. Beck, 2022, 288 Seiten
Philipp Felsch: Der Philosoph: Habermas und wir. Berlin: Propyläen, 2024, 256 Seiten.