Nach langem Warten und nach vielen Spekulationen in der Presse ist endlich die neue ägyptische Regierung eingesetzt worden. Der vor über einer Woche vom Präsidenten ernannte Ministerpräsident, Hisham Qandil, wird sie leiten.
Präsident Mursi hatte versprochen, dass es nicht eine Regierung der Muslimbrüder werden solle, eher, so hatte er angetönt, eine Regierung der Technokraten. Dies hat sich insofern bestätigt, als die führenden Ministerien nicht von Muslimbrüdern besetzt worden sind. Nur vier Mitglieder der Partei der Bruderschaft finden sich in den untergeordneten Ministerien für Hochschulen, Wohnstätten, Jugend und Information. Doch in anderen gibt es Sympathisanten der Bruderschaft.
Wiedereinstellung bisheriger Minister
Eine wichtige Rolle ist den Ministern der bisherigen Regierung zugefallen, die ihrerzeit von den Militärs ernannt worden war. Die Muslimbrüder hatten sie, als es noch ein Parlament gab, als völlig unfähig kritisiert. Doch nun sind sieben der bisherigen Minister in die neue Regierung aufgenommen worden. Dazu gehören der Finanzminister, Mumtaz as-Said, und der Aussenminister, Kamal Amr. Der neue Innenminister, Ahmed Gamal ad-Din, war bisher Stellvertreter des Innenministers.
Der Eindruck entsteht, Mursi und Qandil hätten keine anderen Kandidaten für diese Ministerien gefunden. Kamel Ganzouri, der bisherige Ministerpräsident, wird nun Berater des Präsidenten.
Keine Salafisten
Als Verteidigungsminister blieb, wie es die Militärs von Anfang an klar gemacht hatten, Marschall Tantawi, der auch als Oberhaupt des "Supremen Kommandos" der Streitkräfte wirkt, das als Scaf bekannt ist. Die Minister für Erziehung und Justiz sind zwar selbst keine Muslimbrüder, stehen diesen aber nahe.
Salafisten gehören nicht zur Regierung. Als davon die Rede war, dass ein Salafist das Ministerium für religiöse Angelegenheiten übernehmen könnte, erhoben sich so starke Proteste, dass dieser Plan fallen gelassen wurde. Statt dessen wurde der Rektor der Hochschule al-Azhar mit diesem Amt betraut. Den Salafisten wurde darauf das Ministerium für Umweltfragen zugesprochen. Doch entgegneten sie, dies sei eine Beleidigung und lehnten ab.
Zu den Versprechen Mursis gehörte auch, die Regierung werde Frauen und Kopten enthalten. Die jetzt ernannte Regierung enthält zwei Frauen; eine ist Koptin.
Ablehnung der säkularen Parteien
Was über die Verhandlungen zur Regierungsbildung bekannt geworden ist, zeigte, dass Mursi und sein Ministerpräsident versucht hatten, andere politische Gruppen ausser den Muslimbrüdern mit in die Regierung zu ziehen. Doch dies war gescheitert, in einigen Fällen wohl am Widerspruch der Offiziere, aber noch mehr daran, dass die säkularen Parteien beschlossen hatten, sich nicht an der Regierung zu beteiligen. Ihr offizieller Vorwand war, der von Mursi ernannte Ministerpräsident, Qandil, sei ein heimlicher Muslimbruder und dies widerspreche dem Versprechen, das Mursi gegeben habe.
Doch dahinter steht, dass die säkularen Politiker glauben, die Bruderschaft gehe darauf aus, um jeden Preis an der Macht zu bleiben - mit oder ohne Demokratie. Tatsächlich gehört Qandil nicht formell zu den Muslimbrüdern. Er war Minister für Bewässerung in der vorausgehenden, von den Militärs ernannten Regierung, und hatte zuvor eine Karriere als hoher Beamter im Bewässerungsministerium durchlaufen. Er hätte als Muslimbruder unter Mubarak in dem Ministerium nicht aufsteigen können. Doch es ist deutlich, dass er gesinnungsmässig den Brüdern nahe steht. Dies zeigt schon sein Bart, den er im Stile der Bruderschaft trägt. Er wurde vom Sender al-Jazeera wegen seines Barts befragt, und er antwortete, er trage ihn nicht als Muslimbruder, jedoch aus religiöser Pflicht.
Brüder und Gesinnungsgenossen
Die Bruderschaft verfügt seit der Zeit, in der sie als illegale Partei eingestuft war, über eine reiche Palette von solchen Gesinnungsgenossen, denen nahe gelegt oder empfohlen worden war, in staatlichen Positionen Karriere zu machen und aus diesem Grunde formell von der Bruderschaft fern zu bleiben.
In der ersten von Parlament eingesetzten Verfassungsversammlung hatte die Bruderschaft solche Gesinnungsgenossen eingesetzt, um über die eigenen Parteivertreter hinaus Personen und Persönlichkeiten in die Versammlung zu wählen, die formell nicht zur Bruderschaft gehörten, aber ihr ideologisch doch nahe standen. Dies hatte zu Rücktritten der Politiker von der säkularen Seite des politischen Spektrums geführt, dann zu Klagen, die Kommission sei unausgeglichen, und schliesslich kam es zu ihrer Auflösung durch das Verfassungsgericht und der Neuwahl einer zweiten Versammlung. Die säkularen Politiker sehen offensichtlich den neuen Ministerpräsidenten ebenfalls als einen derartigen Sympathisanten der Bruderschaft.
Ohne Beteiligung der Säkularen
Die Regierung, die nun gebildet wurde, macht klar, dass der Graben zwischen den säkularen Parteien und den religiösen, in erster Linie den Brüdern, zu tief ist, um durch eine gemeinsame Regierung überbrückt zu werden. Dieses Faktum ist von entscheidender Bedeutung für die Zukunft der ägyptischen Revolution. Die Brüder sehen sich von den säkularen Politikern verlassen, die gesamthaft, aufgespalten in viele rivalisierende Splitter, etwa die Hälfte der Ägypter vertreten.
Dies lässt die religiösen Parteien alleine im Ringen um die Macht mit den Militärs und zwingt sie dazu, sich mit diesen zu arrangieren. Eine Konfrontation mit den Militärs, um ein voll demokratisches Regime zu erstreiten, wäre jedenfalls schwierig, aber denkbar gewesen, wenn alle Parteien gemeinsam im Interesse der Demokratie gegen die Militärs zusammengewirkt hätten.
Verantwortlich für die künftigen Misstände
Doch so wie die Dinge nun liegen, sahen die Brüder keinen anderen Weg, als sich mit den Offizieren zu verständigen und dadurch einen Teil der Macht für sich zu erhalten. Dies dürfte allerdings bereits heute mehr Schein als Realität sein. Die reale Macht liegt nach wie vor bei den Offizieren.
Darüber hinaus dürfte in der nächsten und weiteren Zukunft den Brüdern immer mehr Prestige verlorengehen, weil sie nicht in der Lage sein werden, ihre Wahlversprechen wirtschaftlicher, organisatorischer, politischer und sozialer Art einzuhalten. Die Erwartungen und Hoffnungen der ägyptischen Massen werden sich nicht erfüllen.
Man muss befürchten, dass ihr Lebensstandard noch weiter zurückfallen wird. Finanzielle und wirtschaftliche Krisen stehen bevor. Präsident und Regierung werden dafür verantwortlich gemacht werden. In den nächsten Wahlen, die möglicherweise schon in Jahresfrist fällig werden, werden die Brüder Stimmen verlieren.
Die Säkularisten warten auf ihre Zeit
Sowohl die Militärs wie auch die Säkularisten blicken auf diesen Zukunftshorizont. Ob es unter ihnen viele Politiker gibt, die annehmen, sie würden dann in der Lage sein, den Militärs entgegenzutreten, um den Durchbruch zu einem wirklich demokratischen Regime zu erreichen, weiss man nicht. Die zynischeren unter ihnen werden sich sagen, dann kämen sie an die Reihe, um mit den Militärs Kompromisse zu schliessen, die ihnen erlauben, jene Ministerien zu besetzen, welche die Offiziere ihnen überlassen wollen. Das würde natürlich bedeuten, dass das bisher seit Nasser, Sadat und Mubarak bestehende System der Scheindemokratie unter militärischer Steuerung fortgesetzt würde.
Dass die säkularen Parteien in einer theoretisch denkbaren Konfrontation mit den Offizieren besser abschneiden könnten als heute die Muslimbrüder, ist schon darum kaum denkbar, weil die säkulare Front aus vielen gegeneinander konkurrierenden Einzelparteien besteht - von ganz rechts des politischen Spektrums bis extrem links. Den Offizieren wird es leichtfallen, sie gegeneinander auszuspielen.
Keine Reform des Innenministeriums
Über den gegenwärtigen Stand der Reformaussichten gibt der Umstand Auskunft, dass das Innenministerium seinem bisherigen zweiten Mann anvertraut wurde. Dies ist das Ministerium, das den Riesenapparat der Polizei und Geheimdienste leitet, parallel zur Polizei und den Geheimdiensten der Armee. Eine Reform des Innenministeriums war ein Hauptpunkt im Programm der Revolution.
Auch die Muslimbrüder hatten, als es noch ein Parlament gab, in dem sie die Mehrheit besassen, Pläne gemacht und davon gesprochen, wie sie diese Reform in die Hand nehmen würden. In den Tagen der Revolution war der Polizeiapparat zusammengebrochen, und die Polizisten waren von den Strassen verschwunden. Der neue Innenminister ist dem Vernehmen nach mit der Zustimmung der Militärs ernannt worden. Er gehört natürlich zur alten Garde, die nichts von Reformen wissen will. Er hat bereits angekündigt, das Land brauche mehr Sicherheit, und er werde für diese Sicherheit sorgen.
Die beschränkte Aktionsfähigkeit des Präsidenten
Es gibt weiterhin politische Gefangene in grosser Zahl. Sie wurden nicht von Bediensteten des Innenministeriums, sondern von der Militärpolizei während der anderthalb Jahre "der Revolution" festgenommen und sind von Militärgerichten abgeurteilt worden. Es soll sich nach den Statistiken der Menschenrechtsorganisationen um etwa 12'000 Menschen handeln. Viele von ihnen sind Aktivisten der Revolution. Verurteilungen konnten und können noch immer auf Grund von "Ungehorsam gegenüber der Autorität" oder "Beleidigung der Streitkräfte" ausgesprochen werden.
Mursi hatte in der Wahlkampage versprochen, er werde sich für die Befreiung der von Militärgerichten Verurteilten oder auf ihre Weisung gefangenen, aber nicht verurteilten Zivilisten einsetzen. Er tat es denn auch. Er hat bisher die Freilassung von 572 der vermuteten 12'000 bewirkt. Das gehe so langsam, sagen die Beobachter aus Menschenrechtsgruppen, weil das Innenministerium sich widersetze und alle nötigen Schritte verzögere.
Ehemalige Extremisten befreit
Mursi setzte sich auch für eine andere Gruppe von Gefangenen ein. Dies sind 17 gefangene Islamisten aus der Zeit, nachdem Sadat von radikalen Islamisten ermordet wurde, den Jahren nach 1981. Einige von ihnen sitzen seit 30 Jahren in den Gefängnissen. Drei von ihnen wurden zum Tode verurteilt, aber nicht hingerichtet.
Eine ihrer damals terroristisch aktivsten Gruppen hat seither im Gefängnis Selbstkritik geübt, Reue gezeigt und dem Terrorismus abgeschworen. Sie ist heute als legale Partei unter ihrem alten Namen, "Gamaa Islamiya", zugelassen. Einige der nun durch Gnadenerlass des Präsidenten freigekommenen einstigen Terroristen gehören zu ihrer Gruppierung, andere zum früheren "Islamischen Jihad". Es kam auch der Bruder Ayman az-Zawahiris, des heutigen Oberhauptes von al-Qaida, sowie der Islamist, frei. Dieser hatte dem Mörder Sadats, Abboud az-Zumar, die Patronen verschafft.
Diese Begnadigungen können als die Begleichung von Schulden gesehen werden, die Mursi gegenüber den Salafisten abträgt. Die Partei der Salafisten ist neben den Muslimbrüdern die einzige, die ihn nicht boykottiert. Daher wächst ihr Einfluss auf ihn, obwohl sie wahlpolitisch gesehen seine Rivalen sind. Sie finden ihre Wähler in ähnlich orientierten Kreisen der ägyptischen Gesellschaft wie die ägyptischen Muslimbrüder. Man kann durchaus erwarten, dass nach einem Rückgang des Einflusses der Muslimbrüder im Niltal ein Teil ihrer Wähler künftig für die Salafisten stimmen - möglicherweise ein bedeutender Teil.