Aber nirgends wird er so verehrt und ist er so in den Alltag verflochten wie in Indien. Wo sonst gibt es einen Elefanten-Jahrmarkt wie jenen von Sonpur in Bihar, wo Elefanten zum Verkauf stehen als Tempeldiener, Holzfäller, Polo-Spieler, Träger, Schlepper und Dompteure (zur Domestizierung ihrer wilden Verwandten)?
Mercedes für reiche Bauern
Das ist bekannt, aber was ich damals nicht wusste, als ich Sonpur besuchte, war, dass er in der Gangesebene auch der Mercedes für reiche Bauern ist. Sie halten sich einen Elefanten, nicht als Arbeitstier, sondern um dem Dorf zu zeigen, dass sie sich eine vierbeinige Edelkarrosse mit extravagentem Energiekonsum leisten können.
Dass sich ein Tier dieser Grösse, Reichweite und Essfreude in einem Ökosystem halten kann, ist auch ein Hinweis auf die verschwenderische Fülle der indischen Natur. Die Hälfte des Landes ist hier kultivierbar, im Gegensatz etwa zu Chinas zehn Prozent (und dessen systematischer Waldrodung und Ausrottung des Wildbestands). Selbst die Jagd auf Elefanten für den Einsatz als Arbeits- und Kriegsmaterial – der Mogulkaiser Jehangir soll 113‘000 Kriegselefanten gehabt haben – hat deren Population nicht zum Aussterben verurteilt, wie dies beim bengalischen Tiger nun fast unausweichlich scheint. Dessen Bestand ist auf unter 2000 gesunken - die Zahl der indischen Dickhäuter wird auf etwa das Zwanzigfache geschätzt.
Gewfährdete Koexistenz
Doch die Zeit des mehr oder weniger harmonischen Zusammenlebens ist auch bei Mensch und Elefant vorbei. Und so wie er früher ein Indikator für eine gesunde ökologische Basis und zivilisatorische Koexistenz war, so ist er heute ein Warnzeichen für den Verlust der Balance zwischen dem Wilden und dem Zivilisierten, zwischen Natur und Ökonomie. Die Stressymptome sind ueberall sichtbar, wo die beiden aufeinandertreffen.
Konnten sich Elefantenherden früher in grossen natürlichen Reservaten tummeln, sind sie inzwischen zu Wandertieren geworden. Sie legen manchmal tausend Kilometer in einem Jahr zurueck, um ihren grossen Hunger zu befriedigen. Immer wieder kommt es zu Unglücksfällen, wie im letzten Herbst, als im Osten Indiens ein Zug in eine Elefantenherde fuhr und sieben Tiere tötete. Allein in Orissa wurden seit 2000 75 Elefanten durch tiefhängende Stromkabel getötet. Es besteht auch kein Zweifel, wer die Verantwortung dafuer traegt: Bevölkerungsdruck, Ressourcenhunger, unsere pathologische Unterwerfungslust.
Unterwegs im Stammesgebiet in Orissa
Aber es sind nicht nur die Tiere, die zu den Leidtragenden gehören. Ich war letzte Woche im Stammesgebiet von Denkhanal in Orissa unterwegs. Es war der 26. Januar, und auf dem staubigen Vorhof der ‚Child Labour School‘ von Mohulipada flatterte zum ‚Tag der Republik‘ eine Plastic-Trikolore an einem krummen Ast. Rund fünfzig Kinder werden dort von der ‚Indira Social Welfare Organisation‘ (ISWO) eingeschult und auch beherbergt, denn die Stammesdörfer sind entlegen und nur durch Trampelpfade verbunden, was den täglichen Schul- und Heimweg unmöglich macht.
Ein Blick auf das Hinterland von Mohulipada lieferte mir die Illustration: sanft gewellte, dichtbewaldete Hügelzüge, ohne Schneisen und Lichtungen. Nur ein Hochspannungsmast durchbrach die Horizontlinie, und von ferne hörte ich das rhythmische Stampfen eines Güterzugs.
Aber es gibt noch einen weiteren Grund, der die Mütter davon abhält, ihre Kinder auf den Schulweg zu schicken: Elefanten. Eine Frau namens Bhammavera sagte, es sei geradezu lebensgefährlich, denn seit Jahren wanderten jeden Winter mehrere Herden von 20 bis 25 Tieren in die Wälder der Region. Selbst wenn sie die Kinder nicht angriffen, drohten diese verletzt zu werden; die Tiere trampelten wahllos durch den Dschungel und legten rechts und links Bäume und Sträucher um.
Der ‚Block Development Officer‘ – der Regierungsvertreter in einem Dorfverband – bestätigte dies. Die Elefanten seien das schlimmste Problem fuer die Lokalbevölkerung, mehr als das Fehlen einer Strasse oder eines Markts, von Schule und Krankenhaus. Jedes Armutsprojekt sei davon betroffen. Der Versuch, den Ertrag des Reisanbaus durch die neue Methode des weitgesteckten Setzens der Schösslinge zu erhöhen, musste aufgegeben werden, weil die Felder für die Herden wie ein gedeckter Tisch offenstanden. „Wir pflanzen nur noch zwischen den Hütten Reis an“, sagte Bhammavera. „Aber das bringt nicht viel“. ISWO hat in den Dörfern ‚Self-Help Groups‘ gebildet, mit dem alleinigen Ziel, den gemeinsamen Gemüseanbau auf engem Raum einzuführen, um den verlorene Nahrungsbasis wegen der zerstoerten Reis- und Linsenfeldern einigermassen zu ersetzen.
Schrumpfende Weidegründe
Die Opfer der verlorengegangenen Balance sind hier zweifellos Menschen, und die Täterschaft laesst sich am ominösen Rumpeln der Güterzuege erahnen. Orissa ist, mit dem benachbarten Jharkhand, der mineralreichste Bundesstaat Indiens. Keine fünfzig Kilometer hinter den idyllischen Hügeln von Denkhanal liegt das Bergwerkgebiet von Talcher, wo im Tagbau Kohle, Eisenerz und Bauxit gefördert wird.
Talcher ist auch einer der zehn ökologischen ,Hotspots‘ der Welt, eine schwärende Wunde in der Landschaft, wegen des sorglosen Umgangs mit Luft, Erde und Wasser. Immer mehr Regionen im zentralen Ostindien werden dank des in ihnen schlummernden Reichtums zu industriellem Rohmaterial gestempelt. Der Mensch als Täter und Opfer – ‚ausgleichende Gerechtigkeit‘, könnte man ausrufen. Nur dass es nicht die gleichen Menschen sind, die hier Opfer und Taeter spielen.
Das Verkehrsnetz zeigt es an: Doppelgeleise und vierspurige Strasse verbinden das Bergwerkgebiet mit dem Hafen von Paradip. Sie stellen sicher, dass die Früchte des Bodens in China landen, auf dem Tisch des hungrigen Eisenhans. Derweil muss eine Frau, die in Hörweite der Züge lebt, bei einem Schwangerschaftsproblem zwölf Kilometer auf einer Bambusbahre zum Krankenhaus von Denkhanal gebracht werden – getragen von anderen Frauen notabene.
Bei den Elefantenherden schrumpfen derweil die Weidegründe, und die Wandergebiete ziehen sich immer mehr in die Länge. Der Staat muss kilometerbreite Korridore einrichten (86 sind es in ganz Indien), die die Tiere einigermassen an unserer Zivilisation vorbeibugsieren. Desorientiert, vom Instinkt in die Irre gefuehrt, dünnhäutig geworden, treffen sie auf die anderen Bewohner des Walds, den sie früher miteinander geteilt hatten.
Abwehr gegen die Dickhäuter
Doch auch die eingeborenen Adivasis wehren sich fuer ihre dünne Überlebensdecke, indem sie Knallkörper und brennende Pfeile auf die Marodeure loslassen, wenn diese wahllos in die Felder einbrechen und alles zertrampeln. In der ‚Child Labour School‘ gaben die Kinder am ‚Tag der Republik‘ ein Theaterstück - sie spielten ‚Schule‘ –, danach sangen sie und ihre Muetter die Nationalhymne. Alle in Achtungstellung.
Ich stand neben einer Frau namens Parvati Jena. Ich fragte sie, ob sie schon von den Naxaliten gehoert habe, der maoistischen Guerilla, die den Schutz der Urbevölkerung auf ihre rote Fahne geschrieben hat. Ja, sie habe von ihnen gehoert; aber gesehen habe sie noch Keinen. Noch, dachte ich.