Jahre nachdem er einen Bericht über Verbrechen im Kosovo verfasst hatte, wurde Dick Marty bedroht und streng bewacht. Die mutmasslichen Täter liess die Bundesanwaltschaft in Ruhe.
Kurz vor Weihnachten 2020 änderte sich das Leben des ehemaligen FDP-Ständerats Dick Marty grundlegend. Er erhielt vom Tessiner Polizeikommandanten per Telefon die Mitteilung, dass sein Leben bedroht sei. Fortan lebten Marty und seine Frau zusammen mit einigen Elitesoldaten und Polizisten im Haus; rund ums Haus wurden Kameras angebracht.
Zum Arztbesuch fuhr er im gepanzerten Fahrzeug, begleitet von zwei Autos. Vor einem Termin wurde der Bestimmungsort peinlich genau inspiziert. Auch für seltene Spaziergänge im Wald mit seinen zwei Hunden war er unter Polizeischutz. Das dauerte fast fünf Monate, danach bewachte die Polizei den ehemaligen Tessiner Staatsanwalt und Regierungsrat für längere Zeit nur noch von ausserhalb des Hauses, weiterhin wurde er eskortiert, wenn er sein Heim verliess. Über diese Zeit und einige andere Ereignisse veröffentlichte der alt Ständerat ein Buch, erschienen in französischer Sprache im Verlag Favre unter dem Titel «Sous haute protection» (Unter strengerm Schutz). Dieser Artikel fasst Teile dieser Publikation zusammen.
Ein perverser Plan serbischer Nationalisten
Was war geschehen? Als Mitglied der Schweizer Delegation beim Europarat war der Tessiner von diesem Gremium beauftragt worden, einen Bericht über die Verbrechen der kosovarischen Befreiungsarmee UCK zu verfassen. Dieser wurde nach aufwändigen Recherchen und vielen Gesprächen vor Ort im Jahr 2011vorgestellt und fast einstimmig vom Rat genehmigt. Die Entrüstung im Kosovo war gross, aber ohne Konsequenzen für Marty. Fast 10 Jahre später wurde der damalige Präsident des Kosovo, Hashim Thaçi, einer der Kommandanten der Befreiungsarmee, von den Ermittlern des Kosovo-Sondertribunals in Den Haag im Herbst 2020 beschuldigt, Kriegsverbrechen begangen zu haben, und verhaftet. Darauf meldete sich eine Person aus Serbien bei den Schweizer Behörden und informierte sie, dass Martys Leben in grosser Gefahr sei. Der streng Geschützte wusste lediglich, dass die Gefahr vom Balkan ausging, also von Kosovaren, wie man annehmen konnte.
Erst mit der Zeit erfuhr Marty, dass einige serbische Nationalisten ihn umbringen wollten, nicht weil sie etwas gegen ihn hatten, sondern um den Kosovo zu diskreditieren. Denn alle Welt hätte nach der Verhaftung Thaçis angenommen, Kosovaren hätten sich an Marty gerächt und seien die Mörder. Diese Informationen stammten aus einer glaubhaften Quelle, von einer Person, die schon zuvor der Schweiz und anderen europäischen Ländern stichhaltige Informationen geliefert hatte; diese lösten umgehend die strengen Schutzmassnahmen aus.
Unachtsame und dilettantische Behörden
Der unter Personenschutz Stehende staunte, als ihn der zuständige Bundesanwalt einmal fragte, was er an seiner Stelle tun würde. Marty, der früher während mehrerer Jahre ein erfolgreicher Tessiner Staatsanwalt war, antwortete, er würde nach Belgrad fahren, wo in der Botschaft auch ein Bundespolizist arbeite, der ihm einen serbischen Staatsanwalt oder einen Richter nennen könnte – im Hinblick auf ein internationales Verfahren; gleichzeitig würde er das Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA) bitten, die diplomatischen Behörden in Serbien diskret auf den kriminellen Plan von einigen Serben hinzuweisen.
Der Fragesteller meinte, ein solcher Schritt sei nicht opportun, denn er könnte die Spannungen in der Region verschärfen, und zudem habe man ihm beim EDA gesagt, man habe keine Kenntnisse von allfälligen Bedrohungen. Nun staunte Marty noch mehr, denn die strengen Schutzmassnahmen von Stufe 4 (Stufe 5 würde bedeuten, dass der Gefährdete untertaucht) mussten vom gesamten Bundesrat genehmigt worden sein, also war diese besondere Situation auch dem Aussenminister bekannt.
Den Informanten in Gefahr gebracht
Nach mehreren Monaten schrieb Marty in einem Brief an die Bundesanwaltschaft, er akzeptiere die ihm aufgezwungene, seine Freiheit einschränkende Bewachung, gleichzeitig erwarte er jedoch, dass die Bundesanwaltschaft die Untersuchung vorantreibe. Von den Serben, welche Marty nach dem Leben trachteten, um die kosovarische Führung zu diskreditieren, waren Namen, Telefonnummern und Autonummern den Behörden bekannt, doch es wurde nichts unternommen, um die Übeltäter zu demaskieren und die Gefahr zu bannen.
Der Informant hatte zudem ausgeführt, dass neben der Polizei in Belgrad auch Mitarbeiter des Geheimdienstes über die Pläne der Nationalisten im Bild waren. Zusätzlich war Interpol in Belgrad eingeschaltet worden, aber dies geschah so überhastet und dilettantisch, dass die Kriminellen dort sofort davon erfuhren und entsprechend wussten, dass die Schweizer Behörden ihren Plan kannten. Das war auch gefährlich für den Informanten, der aus Serbien flüchten musste.
Der ehemalige Staatsanwalt und Ständerat ist enttäuscht
In einem zweiten Brief an die Bundesanwaltschaft bedauerte Marty, dass die Behörden nicht weiter mit dem Informanten sprechen wollten. Dieser hatte nämlich zusätzliche Informationen angeboten. Ob die Behörden dafür nicht das übliche Entgelt zahlen wollten oder man ihm nicht mehr traute, blieb unklar. Der Informant, der Marty vor dem geplanten Attentat bewahrt hat, war plötzlich nicht mehr genehm.
Auf seine zwei Schreiben erhielt Marty keine schriftliche Antwort. In seinem Buch zeigt sich Marty enttäuscht, einerseits vom Dilettantismus und der Untätigkeit der Bundesanwaltschaft, andererseits vom Fehlen jeglichen Interesses an dieser besonderen Angelegenheit seitens Bundesrat Cassis und seinem Departement. Gleichzeitig ist er voll des Lobes für seine Beschützer, die Elitesoldaten des ersten Monates und die Polizeibeamten, die abwechslungsweise aus dem Tessin, der französischen Schweiz und der deutschen Schweiz kamen. Sie seien nicht nur hoch professionell vorgegangen, so schreibt Marty, sie seien auch sehr freundlich zu ihm und seiner Frau gewesen, so dass eine freundschaftliche, ja herzliche Beziehung entstanden sei.
Nach 16 Monaten wurde der Schutz Martys herabgesetzt auf Stufe 3; seither kann er sich relativ frei bewegen. Es ist das erste Mal, dass in der Schweiz ein Person so lange unter derart strengen Schutz gestellt worden ist.
PS: Am 3. April dieses Jahres begann vor dem Kosovo-Sondertribunal in Den Haag der Prozess gegen den ehemaligen Führer der kosovarischen Befreiungsarmee und früheren Präsidenten Kosovos Hashim Thaçi sowie gegen drei weitere Kommandanten der Befreiungsarmee. Sie stehen wegen Kriegsverbrechen vor Gericht. Die Beschuldigten weisen alle Vorwürfe zurück.