Der Tod ist die grosse Herausforderung. An ihm reibt sich die menschliche Erkenntnisfähigkeit und bringt einen Funkenregen von Bildern und Sinnstiftungen hervor. Die Frage nach dem Tod, die Grundfrage der Menschheit, liegt am Ursprung von Religon und Philosophie. Ist der Mensch fähig, den Tod zu erkennen, oder liegt der Tod ausserhalb des Zugänglichen? Gibt es eine Grenze des Wissenkönnens? Wir versuchen das uferlose Meer der Erkenntnisse und Spekulationen über den Tod auszuschöpfen, um der Wahrheit auf den Grund zu kommen. Umsonst.
Seismograph des Untergründigen
Wo man nicht mehr weiterkommt, helfen Menschen, die mehr sehen. Dichter erahnen das nicht Zugängliche. Durchlässig für Unbewusstes, sind sie die Seismographen des Untergründigen, die Tastfühler ins Unbekannte. Wo der Verstand nicht mehr greift, wird man bei ihnen fündig. Zum Beispiel bei Gottfried Kellers Abendlied, das viele zu früh in der Schule auswendig gelernt haben. Es beginnt mit „Augen, meine lieben Fensterlein“. Die zweite Strophe lautet dann:
„Fallen einst die müden Lider zu,
Löscht ihr aus, dann hat die Seele Ruh’,
Tastend streift sie ab die Wanderschuh’,
Legt sich auch in ihre finstre Truh’.
Noch zwei Fünklein sieht sie glimmend steh’n,
Wie zwei Sternlein, innerlich zu seh’n,
Bis sie schwanken und dann auch vergeh’n,
Wie von eines Falters Flügelweh’n.“
Mit einem solchen Tod lässt sich’s leben. Der Atheist Gottfried Keller beschreibt hier einen zarten, beruhigenden Tod. Diese Todesvorstellung setzt keinen Glauben voraus und passt damit in die säkularisierte Gesellschaft.
Gläubige Atheisten
Aber was heisst schon säkularisiert? Viele Menschen bezeichnen sich heute als Atheisten oder Agnostiker, als Ungläubige. Sie können sich mit den religiösen Geschichten nicht identifizieren, obschon sie sehr wohl die Zugehörigkeit zu einem Übergreifenden erfahren. Aus der Natur, aus der Kunst und aus Gesichtern leuchtet ihnen das Verbindende entgegen. Sie leben verantwortungsvoll, orientieren sich an humanen Werten und geben ihren Kindern einen ethischen Kompass mit. Die Offenheit für das Umfassende ist bei ihnen durchaus da, aber die von den Religionen angebotenen Bilder stimmen nicht für das Erahnte.
Das trifft auch für Gottfried Keller zu. Dicht unter dem dünnen Firnis des Atheismus drängt bei Keller eine bildmächtige Allverbundenheit nach Ausdruck. Für heutige Suchende, die man als gläubige Atheisten bezeichnen könnte, ist Gottfried Keller eine gute Adresse.
Mit der Figur der Dorothee im Grünen Heinrich plädiert Keller für einen erleuchteten Atheismus. Er liefert hier eine eigentliche Gebrauchsanweisung für den Umgang mit der Sterblichkeit. Dorothee, die entzückende Atheistin, glaubt nicht an ein Leben nach dem Tod: „Wer sagt, dass es ohne Unsterblichkeitsglaube weder Poesie noch Lebensweihe in der Welt gebe, der hätte sie sehen müssen; nicht nur Natur und Leben um sie herum, sondern sie selbst wurde wie verklärt. Das Licht der Sonne schien ihr tausendmal schöner als anderen Menschen. Das Dasein aller Dinge wurde ihr heilig und ebenso der Tod, den sie sehr ernsthaft nimmt, ohne ihn zu fürchten. Sie gewöhnte sich, zu jeder Stunde an ihn zu denken, mitten in der heiteren Freude und im Glücksgefühl.“
Paradoxe Todesbilder
Gottfried Keller nähert sich seinen Themen von allen Seiten und in allen Tonlagen. Als träumender Realist und gläubiger Atheist vereinigt er unvereinbare Widersprüche in sich. Seine Haltung ist ebenso paradox wie der Tod. Der Tod beendet das Leben – und macht es als dessen Gegenspieler erst lebendig. Ohne Tod kein Leben. Was nicht sterben kann, lebt nicht. Kellers paradoxe Todesbilder entsprechen ihrem Gegenstand. Sie können auf keinen gemeinsamen Nenner gebracht werden.
Da haben wir den gerechten Tod, mit dem gemeinschaftsschädigende Schurken entsorgt werden. So stürzt das fiese Meierlein im Grünen Heinrich vom Dach. Einem dämonisch bösen Tod begegnen wir in der Geschichte von Meret. In der erschreckend realistischen Darstellung einer Kindsmisshandlung wird ein bezauberndes Mädchen nach allen Regeln der schwarzen Pädagogik zu Tode gequält. Im Gegensatz dazu finden sich bei Gottfried Keller ganz andere, wie von leichter Hand hingetupfte Todesvorstellungen. Sogar mit Humor lassen sie sich verbinden.
Liebevoller Humor
Der Humor erhebt sich als Insel aus dem Meer der Gefühle. Die Wogen der Ängste und der Leidenschaften zerschellen an seinen Klippen. Humor ermöglicht, trockenen Fusses über den Stürmen zu stehen. Er ist überlebenswichtig, wenn uns das Leben zu nahe auf den Pelz rückt. Er schafft die Distanz zu seinem Gegenstand, die eine klärende Erfassung begünstigt und differenzierte Reaktionen ermöglicht.
Sarkasmus, der schwarze Bruder des Humors, schadet seinem Objekt. Im Gegensatz dazu versöhnt uns eine empathisch humorvolle Erkenntnisweise mit dem menschlichen Ungenügen. Der liebevolle Humor streichelt sein Objekt mit Wohlwollen. Er überbrückt die Fallhöhe zwischen Ideal und Wirklichkeit und tröstet über all die vergeblichen Versuche hinweg, die Dinge in den Griff zu bekommen. Humor schafft Raum für das Spiel. Er umtanzt seinen Gegenstand und macht ihn beweglich. Denkspielereien lockern Vorurteile auf und holen die in dogmatischen Sackgassen Gefangenen in die Denkfreiheit zurück.
Gerade der Tod ruft nach der Milderung, nach der Zähmung durch das Spielerische und das Humorvolle. Der Mensch ist nur Mensch, wenn er spielt, sagt Schiller. In diesem Sinne Mensch zu bleiben angesichts des Todes, gibt dem Tod ein anderes Gesicht. Es kann nicht darum gehen, den Tod zu verharmlosen, sondern darum, dem Tod mit der ganzen Klaviatur menschlicher Verhaltensweisen zu begegnen und auch die heiteren Töne nicht auszulassen.
Erheiterte Komplizen
Je gewichtiger die Thematik, desto üppiger blüht Gotfried Kellers Humor. Es ist ein profunder, dem Leiden abgerungener Humor. Er durchdringt seine Texte, würzt seine Geschichten und macht seine Leser zu erheiterten Komplizen. Keller kommt dem intellektuellen Spieltrieb mächtig entgegen. Die zweite Fassung des Grünen Heinrich überquillt von ironischen Doppelbödigkeiten, in denen sich der ältere Keller über die eigene Wahrheitsuche mokiert und mit dem Leser genussreiche Verwirrspiele treibt. „Glaubt ja nicht, es gebe den festen Punkt, von dem aus man die Welt aus den Angeln heben könne“, scheint er uns zuzurufen.
Gottfried Keller spielt mit den letzten Dingen. Amüsiert folgen wir im Grünen Heinrich seinen Karikaturen von menschlichen und allzumenschlichen Vertretern von Atheismus und Deismus. Der frischgebackene Atheist Gilgus schwadroniert über die Freuden der Gottlosigkeit, und der wohlgenährte Severin lässt sich’s in seiner satten Gläubigkeit gut schmecken. Auch bei der weisen Dorothee kommt der hintergründige Humor Kellers zum tragen. Sie bemerkt nämlich:„Gott ist alles zuzutrauen. Sogar, dass er existiert.“
Der helvetische Hamlet
Im Landvogt von Greifensee wiederum begegnet uns ein niedlicher, unbedrohlicher Tod, der als ironisches Memento mori eingesetzt wird: Im Schreibtisch der Grossmutter von Salamon Landolt steht das Tödlein: Es ist „… aus Elfenbein kunstreich und fein gearbeitet, ein vier Zoll hohes Skelettchen mit einer silbernen Sense, welches das Tödlein genannt wurde und an welchem kein Knöchelchen fehlte. Diesen zierlichen Tod nahm die Grossmutter auf die zitternde Hand und sagte, während das feine Elfenbein ein wenig klingelte und klapperte: ’Sieh’ her, so sehen Mann und Frau aus, wenn der Spass vorbei ist! Wer wird denn lieben und heiraten wollen!‘”
Ein drastischer und dramaturgisch genialer Einfall lässt Keller seinem Grünen Heinrich einen Totenschädel auf die Reise mitgeben. Der Schädel muss für allerlei Spässe hinhalten. Der helvetische Hamlet versteckt das sperrige Teil zuunterst in seinen Reisekasten, und die ahnungslose Mutter legt neue Leibwäsche darauf. An einem Fasnachtsfest verkleidet Heinrich sich als Narr und setzt sich einen Distel- und Stechpalmenkranz auf den Kopf. Nach dem Fest krönt Heinrich den Schädel mit eben diesem Narrenkranz.
Der unübertreffliche Clou ist die Szene auf dem Friedhof, wo Heinrich vor seiner Abreise den Schädel holt: „Er lag im grünen Unkraut, die Kinnlade daneben, und war inwendig von einem schwachen bläulichen Lichte erhellt, das leise durch die Augenhöhlen drang, wie wenn das leere Kopfhäuschen noch von einstigen Traumgeistern bewohnt wäre. Zwei Glühwürmchen sassen nämlich darin, vielleicht in Hochzeitsgeschäften.“ Das ist Keller pur.
Charmante Sinnestäuschung
Selbst beim frühen Tod der geliebten Anna fehlen die humorvollen Töne nicht. Annas mit Myrthen und Rosen geschmückter Sarg wird über den Berg zur Kirche getragen. Das auf Gesichtshöhe angebrachte Guckfensterchen des Sarges funkelte „fast schalkhaft“ zwischen den Blumen hervor.
Dieses Guckfensterchen hat es in sich. Heinrich hat mitgeholfen, Annas Sarg zu zimmern. Bevor er das Guckfensterchen in den Sarg einsetzte, hielt er es gegen die Sonne und erblickte das lieblichste Wunder, das er je gesehen hatte. Er sah musizierende Engelsknaben, die freudig und andachtsvoll nach oben blickten, „… aber die Erscheinung war so lustig und zart durchsichtig, dass ich nicht wusste, ob sie auf den Sonnenstrahlen, im Glase oder nur in meiner Phantasie schwebten.“
Diese Vision wird auf den Boden der Realität zurückgeführt, wenn wir erfahren, dass das Glas vorher einen Kupferstich von musizierenden Engelsknaben bedeckt hatte; nach der langen Zeit hatte die Druckfarbe auf dem Glas Spuren hinterlassen. Der verzückte Heinrich unterliegt einer Täuschung, die ihm das schalkhafte Guckfensterchen bereitet hat. Keller bringt es fertig, den Blick in den Himmel so charmant zu einer Sinnestäuschung umzubiegen, dass der Leser nur lächeln kann.
Tod und Geborgenheit
Im Grünen Heinrich findet sich ein bemerkenswerter Satz. Er erweist sich als ein Schlüssel, der in viele Schlösser passt. Nach dem Tod der Mutter sinniert der schuldgequälte Heinrich: „Am besten wäre es, dachte ich, du lägest unter dieser sanften Erdbrust und wüsstest von nichts! Still und lieblich wäre es, hier zu ruhen.“ – Wer kennt sie nicht, die Sehnsucht danach, alles loszuwerden, dem Schraubstock von Schuld, Stress und Schmerz zu entrinnen und erlöst unter eine warme Bettdecke zu kriechen?
Die Todessehnsucht hat mit dem menschlichen Hunger nach Verschmelzung zu tun. Er nährt sich aus der Sehnsucht nach Liebe. Die Tiefenpsychologie kennt den Sog der frühkindlichen Geborgenheit. Der Mensch beginnt seine Lebensreise in der Sicherheit des Mutterleibs, wo er, mit allem versorgt, warm umfangen wird. Hinausgestossen in eine kalte Welt vermisst er dieses Aufgehobensein. Wenn er Glück hat, empfangen ihn liebevolle Arme. Doch das Heimweh nach der schützenden Geborgenheit des Ursprungs hört nie auf. Der Drang nach diesem seligen Daheimsein beflügelt jede Umarmung und jeden Liebesakt. Nicht umsonst heisst der Orgasmus auf französisch „La petite mort“. Der Hoffnung auf das Heimgehen in das verlorene Paradies liegt auch die Todessehnsucht zugrunde.
Archaische Todesgöttinnen
Analog zur Diskussion um das Geschlecht Gottes kommt nun auch das Geschlecht des Todes ins Blickfeld. Sowohl Gott wie Tod stehen ausserhalb menschlicher Definitionen. Aber die Bilder sind trotzdem da und wirken. Der Tod, der wilde Knochenmann, ist bei uns männlich. Aber schon hundert Kilometer westlich oder südlich begegnen wir dem weiblichen Tod: la mort, la morte, la muerta. Die lateinischen Sprachen ordnen den Tod dem Weiblichen zu.
Die uralte Vorstellung des Lebenszyklus sieht den Menschen durch die Geburt aus einer anderen Welt auftauchen, seinen Lebenskreis vollenden, um dann durch die Pforte des Todes dorthin zurückzukehren, wo er hergekommen ist. Archaische Muttergöttinnen hielten den Zyklus im Gang, vom Anfang bis zum Ende. Sie begleiteten die Geburt, beschützten den Lebensweg und holten den Menschen am Ende des Lebens über die Schwelle des Todes heim. Sie initiierten die zweite Geburt, den Übergang zurück ins Nichtsein.
Diese Göttinnen vereinten drei Aspekte in sich: Das selbstbestimmt Jungfräuliche, das nährend Mütterliche und das todbringend Vergängliche als Jungfrau, Mutter und Todesherrscherin. Die ägyptische Isis wie auch die indische Kali bringen sowohl das Leben als auch den Tod. Im griechisch-römischen Patriarchat wurden die Göttinnen harmloser. Der Bezug zum Tod fehlte. Und so ging der dritte Aspekt, die dunkle, machtvolle Potenz der grossen Göttin als Todesbringerin, verloren. Der griechischen Demeter und der christlichen Jungfrau Maria fehlt diese dritte Dimension.
Die lebenslängliche Sehnsucht nach Geborgenheit, nach der Rückkehr in die warme, weiche Ruhe des Anfangs, macht die Vorstellung einer mächtigen, liebevollen „Muttertodes“ plausibel. Sicher schützen ihre starken Arme den ewigen Schlaf der Verstorbenen. Gottfried Keller kommt diesem Bild sehr nahe. „Am besten wäre es, du lägest unter dieser sanften Erdbrust und wüsstest von nichts! Still und lieblich wäre es hier zu ruhen.“
Vom Tod zum Leben
Die Todesnähe weckt die Lebenslust. Dieses Motiv taucht im Grünen Heinrich mehrmals auf. Heinrich und Anna begleiten das Sterben der Grossmutter und lesen ihr abwechslungsweise Gebete vor. Sie flirten am Sterbebett: „… wenn wir uns die geistlichen Bücher übergaben, flüsterten wir einige Worte, oder wenn wir beide frei waren, ruhten wir behaglich nebeneinander aus und neckten uns im stillen, da die Jugend einmal ihr Recht geltend machte.“ Das Leben geht weiter trotz oder vielleicht wegen der Todesnähe.
Das zeigt sich noch deutlicher nach der Abdankung der Grossmutter. Beim Leichenmal im Trauerhaus stellt sich eine mässige Fröhlichkeit ein. „Diese war wohl zu unterscheiden von einer gewöhlichen lustigen Stimmung und eine symbolische Absicht, welche eine heitere Ergebung in den Lauf der Dinge und das Recht des Lebens gegen den Tod bedeuten sollte.“ Es geht hier um „die weise und fröhliche Ergebenheit in das Unvermeidliche“.
Nach der Beerdigung wird getanzt. Die Musik spielt zuerst einen Trauermarsch. Dann werden alte Tänze aufgeführt. Später geht die Musik in einen lustigen Hopser über. Die Jungen holen einander herein, „und bald verschmolz alles in einem rauschenden und tobenden Wirbel der Lust”. Nach der Bestattung bäumt sich das Leben auf zu einer Tanzorgie.
Eine Antwort auf die Vergänglichkeit ist die Zuwendung zum Hier und Jetzt, wie sie auch im Abendlied von Gottfried Keller dargestellt wird. Es endet mit folgenden unsterblichen Zeilen:
„Doch noch wand’l ich auf dem Abendfeld,
Nur dem sinkenden Gestirn gesellt,
Trinkt, o Augen, was die Wimper hält,
Von dem goldnen Überfluss der Welt.“
Trinken, bis der Durst gelöscht ist. Und dann lebenssatt und lebensversöhnt der Muttertodes in die Arme sinken. Das wäre ein guter Tod.