Kein Tag vergeht ohne Kritik aus internationalen Medien an der Haltung Deutschlands zur Ukraine. Und auch kaum ein weiterer Tag ohne noch härtere Worte aus Kiew, auch nach der brüsken Ausladung von Bundespräsident Steinmeier durch Präsident Selenskyj. Die in Berlin Regierenden (angefangen bei Angela Merkel) hätten bei allem, was sie jahrelang in Sachen der so genannten Ost-Politik angestrebt hatten, nur eines im Blick gehabt: wirtschaftliche Vorteile.
Politische Bedenken seien, Warnungen von verschiedenen Seiten hin oder her, konsequent unter den Tisch gewischt worden. Und jetzt, in den Tagen der Bewährung, laviere Deutschland immer noch hin und her, wolle erst nur ein paar tausend Helme für die ukrainischen Soldaten liefern, und jetzt verweigere es sich immer noch den Bitten, schwere Waffen zu senden. Letzten Endes gehe es «den Deutschen» nur darum, ihren Wohlstand zu sichern und zu mehren, und daher seien sie ja auch Spitzenreiter hinsichtlich des Handels mit Russland geworden.
Der Botschafter der Ukraine in Berlin, Andrij Melnyk, warf Steinmeier sogar vor, er habe «seit Jahrzehnten ein Spinnennetz der Kontakte mit Russland geknüpft». Was den ehemaligen deutschen Aussenminister, Sigmar Gabriel, am Ostersonntag zum Kommentar veranlasste, Deutschland dürfe keine «Verschwörungstheorien über die Politik unseres Landes und seiner Verantwortungsträger» hinnehmen.
Bashing kreuz und quer durch Europa
Es sind, wie erwähnt, nicht nur Politiker und Diplomaten der unter Stress stehenden Ukraine, die Deutschland an den Pranger stellen – was man «bashing» nennt und sich gegen Berlin richtet, kommt auch aus Redaktionsräumen kreuz und quer in Europa. Auch aus der Schweiz.
Inwieweit ist das gerechtfertigt?
Man kann «der deutschen Politik» vorwerfen, sie habe die politischen Risiken des Nord-Stream II-Unternehmens unterschätzt. Dass Gerhard Schröder, ehemaliger Kanzler der Bundesrepublik, sich da engagierte respektive sich für seine Tätigkeit teuer bezahlen liess, ist nicht nur rückblickend hoch problematisch – das war es schon von Anbeginn an. Dass anderseits Angela Merkel argumentierte, Nord-Stream II sei ein Projekt, das nur Europa betreffe und es habe mit Politik nichts zu tun, entsprang einer nachvollziehbaren Abwehr-Haltung der Kanzlerin gegen US-amerikanische Druckversuche.
Politische Implikationen unterschätzt
Donald Trump und US-Konzerne versuchten während vier Jahren konsequent, international ihre eigenen Interessen durchzusetzen, was für den vorliegenden Fall hiess: Alles tun, um die Europäer dazu zu zwingen, Flüssiggas aus Amerika zu kaufen. Nord-Stream II mit seiner Kapazität von 55 Milliarden m3 pro Jahr erschien aus US-Perspektive als gewaltige Konkurrenz – umso mehr, als das Gas aus Amerika auf dem Markt zu höheren Preisen angeboten wurde als jenes aus Russland. Aber insgesamt muss man den Verantwortungsträgern in der «Aera Merkel» wohl doch vorwerfen, dass sie die politischen Implikationen des Grossprojekts Nord-Stream II unterschätzt haben.
Man kommt bei der Einschätzung der (vorhandenen oder nicht vorhandenen) Substanz der gegenwärtigen Diskussionen um wirtschaftliche Abhängigkeiten und Interessen nicht um ein paar Zahlen herum. Zum Beispiel um die Export-Kennziffern Russlands vor dem Krieg.
Die Fakten sagen etwas anderes
An erster Stelle kommt in der Statistik, das erstaunt wohl niemanden, China. Auf Rang zwei aber rangierte beispielsweise 2019 (die entsprechenden Zahlen ändern etwas von Jahr zu Jahr, wesentlich abhängig von den Schwankungen der Marktpreise für Erdöl und Erdgas) nicht etwa Deutschland, sondern die Niederlande. Und vergleicht man die Liefermengen von Erdgas, rangiert Deutschland mit 42,6 Milliarden m3 an erster Stelle, gefolgt von Italien (29,3 Milliarden). Dann folgen Belarus, die Türkei, die Niederlande und danach Ungarn.
Vergleicht man aber die Bevölkerungszahlen, zeigt sich: Die Niederlande (17,6 Millionen) oder Italien (knapp 60 Millionen, Deutschland hat 83 Millionen) konsumierten pro Kopf fast gleich viel russisches Gas wie Deutschland. Ganz zu schweigen von Ungarn und dessen Führung (Orbàn versicherte noch am 6. April dem russischen Präsidenten, sein Land werde die Gas-Rechnungen, dem Begehren Moskaus folgend, in Rubel begleichen). Aber von internationaler Medienschelte an Ungarn ist wenig zu lesen oder zu hören. Und so fällt die Unterstellung an die Adresse Berlins, Deutschland habe sich als einziges Land in Europa auf unverantwortbare Weise abhängig gemacht von Russland, an den Fakten gemessen ziemlich schnell ins Leere.
Das Resultat wirkt oft verkrampft
Gewiss, das Hin und Her der deutschen Regierungen (auch der jetzigen) hinsichtlich Lieferung von Waffen an die Ukraine ist für die «Aussenwelt» irritierend. Wir dürfen aber, meine ich, fairerweise den zeitgeschichtlichen Hintergrund nicht vergessen – die moralische Schulden-Last, zurückgreifend in die Zeit der Gräueltaten deutscher Einheiten im Zweiten Weltkrieg sowohl auf dem Gebiet der Ukraine als auch auf jenem Russlands.
Sie wirkt in jede Entscheidung pro oder contra Waffenlieferungen hinein, also auch in die Frage, ob Berlin jetzt Ja sagen sollte zur Lieferung von Panzern an die Ukraine oder eben doch Nein. Das Resultat wirkt oft verkrampft – und ist dann auch entsprechend widerspruchsvoll.
Zwietracht säen hilft nur Putin
Keine Probleme aber hat Deutschland mit nicht-militärischer Hilfe: kein anderes europäisches Land hat der Ukraine, spätestens seit 2014, derart grosszügig finanzielle Unterstützung gewährt (zwei Milliarden Direkt-Hilfe, vier weitere Milliarden im Rahmen von EU-Massnahmen, und jetzt kommen weitere Milliarden hinzu), und kein europäisches Land – mit Ausnahme der direkten Nachbarn der Ukraine – hat so viele Flüchtlinge aufgenommen. Ich kann Marco Müller, Redakteur bei der Deutschen Welle, verstehen, wenn er sich empört: «Fordern, Düpieren, Fordern, Düpieren – das scheint aktuell das Schema zu sein, nach dem die Ukraine in Gesprächen mit und über Deutschland vorgeht.» Und auch, dass er irritiert ist über das Verhalten anderer europäischer Länder. Grossbritannien etwa erschwert die Einreise von Ukraine-Flüchtlingen, und Frankreich ist zumindest weniger offen als Deutschland (oder die Schweiz) hinsichtlich der Aufnahme von Menschen, die aus der Ukraine flüchten mussten.
Der Redakteur der Deutschen Welle beendet seinen Kommentar mit den Sätzen: «Ein überflüssiges Schauspiel. Schliesslich haben ja alle dasselbe Ziel – Russlands Krieg in der Ukraine zu beenden. Also warum Zwietracht säen? Das hilft nur einem: Putin.»
Diesem Urteil kann ich mich voll und ganz anschliessen.