Ein Gespenst geht um in Deutschland: die Angst vor dem Terrorismus. Endlich hat Angst, diese urdeutsche, diffuse Furcht vor etwas nicht näher zu Bezeichnendem (Die Welt kannte dieses Gefühl und Wort nicht, bis wir es ihr gegeben haben.) konkrete Form angenommen. Einer repräsentativen Umfrage der R und V Versicherung aus dem letzten Jahr zu den „Ängsten der Deutschen“ zufolge fürchten sich 73 Prozent der Deutschen vor Terrorismus.
Zwischen 2001 und 2014 wurden weltweit 28‘895 Terroranschläge gezählt, bei denen mindestens eine Person starb. Insgesamt kamen dabei 135‘391 Menschen um, 42‘759 davon in Irak, 16‘888 in Afghanistan, 13‘524 in Pakistan, 11‘997 in Nigeria, Indien 6‘999, Syrien 3‘592, USA 3‘047 (einschliesslich der Opfer von 9/11), Somalia 2‘883, Russland 2‘606, Algerien 2‘415. Im gleichen Zeitraum starben in Europa 420 Menschen bei Terroranschlägen, 0,3 Prozent aller Opfer des Terrorismus in diesem Zeitraum. In Deutschland erschoss ein Kosovo-Albaner 2011 auf dem Frankfurter Flughafen zwei US-Soldaten, 2016 fielen zwölf Besucher eines Weihnachtsmarktes in Berlin einem terroristischen Anschlag zum Opfer, und zwischen 2000 und 2007 ermordeten die Mitglieder des Nationalsozialistischen Untergrunds acht Türken, einen Griechen sowie eine deutsche Polizistin.
1,25 Millionen Verkehrstote
2015, eines der schlimmsten Terrorjahre in Europa im 21. Jahrhundert, fielen im Zusammenhang mit den Anschlägen im Januar auf das Satire-Magazin Charlie Hebdo sowie der Angriffsserie im November in Paris weitere 164 Menschen dem Terrorismus zum Opfer. Im selben Jahr verzeichnete die Statistik weltweit 11‘774 terroristische Anschläge mit 28‘328 Toten (darunter rund 7‘000 Attentäter) und 35‘000 Verwundeten. Die Zahl europäischer Opfer des Terrorimus war auch in diesem Jahr verschwindend gering verglichen mit jenen Afghanistans, Syriens oder des Irak. Unter dem Terror leiden weltweit vor allem Muslime. (Anschläge in Nizza, Brüssel und Berlin forderten 2016 80, 35 und zwölf Opfer respektive. Neben dem Anschlag auf den Berliner Weihnachtsmarkt meldeten die Behörden 2016 drei weitere islamisch inspirierte Mordversuche in Deutschland: Im Februar verletzte eine 15-Jährige einen Polizisten lebensgefährlich mit einem Küchenmesser. Im April verübten zwei mutmassliche Salafisten aus Gelsenkirchen nach einer indischen Hochzeit einen Bombenanschlag auf ein Gebetshaus der Sikhs in Essen, wobei drei Menschen verletzt wurden. Im Juli griff ein 17-Jähriger aus Afghanistan in einer Regionalbahn bei Würzburg Fahrgäste an und verletzte dabei fünf Menschen, ehe er von Polizisten erschossen wurde.
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) berichtet jedes Jahr nahezu gleichbleibend von weltweit rund 1,25 Millionen Verkehrstoten. Weitere Vergleiche relativieren die Gefahr, die Bundesbürgern vom internationalen Terrorismus droht,noch deutlicher. Laut Spiegel Online kommen jedes Jahr „allein in Deutschland ungefähr 300 Menschen wegen verschluckter Kugelschreiberteile ums Leben“, 500 ersticken an verschluckten Fischgräten, und „beinahe 12‘000 Menschen kommen in Deutschland im Jahr bei Stürzen um“.
Geschürte Hysterie
Niemand in Deutschland ist bisher auf die Idee gekommen, darum Leitern oder Kugelschreiber zu verbieten oder Gesetze zu erlassen, die den Gebrauch von derartigen Geräten sicherer machen sollen. Im „Kampf gegen den Terrorismus“ aber überschlagen sich Presse und Politik mit Forderungen nach neuen Gesetzen und mehr Sicherheit. In unzähligen Zeitungsartikeln, beinahe in jeder Nachrichtensendung, in zahlreichen Talkshows und sonstigen Fernseh- oder Radiosendungen wird – immer von denselben Leuten, die gerne als „Experten“ vorgestellt werden – fleissig Angst und Hysterie vor Muslimen und neuen Terroranschlägen geschürt.
Dabei werden gerne auch schlichte Kriminelle zu Terroristen erklärt. Als 2001 eine Bande von Kidnappern auf der philippinischen Insel Jolo mit Namen Abu Sayyaf, die regelmässig philippinische Geschäftsleute entführte, um sie dann gegen ein Lösegeld von 30‘000 Dollar wieder freizulassen, auch ein paar Europäer entführte (darunter die Familie Wallert aus Göttingen), machten die Medien aus den schlichten Kriminellen schnell eine muslimische Terrororganisation. Die deutsche Regierung und der Spiegel bezahlten für die Freilassung der Geiseln sowie eines kecken Journalisten, der die Geiseln hatte interviewen wollen und stattdessen ebenfalls zur Geisel mutierte, Millionen und machten sich damit der Unterstützung einer „terroristischen Vereinigung“ schuldig, sofern man sich der amtlichen deutschen Definition der Gruppe anschliesst. Die Regierung in Manila hatte nun ein ernstes Problem an der Backe, denn die Bande wuchs nach dem Goldrausch von vormals 500 auf 6‘000 Mitglieder.
Fingerabdrücke von Sechsjährigen
Es ist wie bei der Kriegsberichterstattung. Dort wird regelmässig eifrig von Flugzeugangriffen berichtet, höchst selten aber von Artilleriegefechten, denen weit mehr Menschen in den Kriegsgebieten zum Opfer fallen als Flugzeugbomben. Flugzeuge und Helikopter aber wirken im Fernsehen cooler als Kanonenrohre. Und Terroristen sind natürlich spektakulärer als Fischgräten oder Leitern.
Einem neuen „Polizeimustergesetz“ zufolge sollen nun „Fahnder mehr Befugnisse“ erhalten. „Bund und Länder wollen die Schutzvorkehrungen gegen den Terrorismus verstärken.“ „Die Bundesregierung will das Programm zur Vorbeugung von Terrorismus verstärken.“ Auch „die Fingerabdrücke von 6- bis 14-Jährigen sollen nun gesammelt werden.“ Vier Meldungen einer einzigen Nachrichtensendung, der ARD-Tagesschau vom 14. Juni, handelten von geplanten, neuen Sicherheitsvorkehrungen des Bundesinnenministeriums. Als hätte Deutschland nicht schon genug.
Zwar weiss jeder Experte, dass all diese Massnahmen neue Anschläge nicht verhindern können. Aber kaum jemand macht sich Gedanken über die Folgen der Sammel- und Überwachungswut unserer Sicherheitsorgane. Schon vor über 2‘000 Jahren warnte Aristoteles vor solchen Auswüchsen: „Wer Sicherheit der Freiheit vorzieht, ist zu Recht ein Sklave.“ Vor 200 Jahren wiederholte Benjamin Franklin die Warnung: „Wer die Freiheit aufgibt, um Sicherheit zu gewinnen, wird am Ende beides verlieren.“