Wenn bislang vom „deutschen Herbst“ die Rede war, dann galt das als Umschreibung des Höhepunktes des RAF-Terrors der so genannten Baader-Meinhof-Bande im September und Oktober 1977. Stichworte: Entführung und Ermordung des Arbeitgeber-Präsidenten Hanns-Martin Schleyer, Kidnapping der „Lufthansa“-Boeing „Landshut“ und deren Erstürmung in Mogadischu, Selbstmord der in Stuttgart-Stammheim inhaftierten RAF-Führungsriege mit Andreas Baader und Gudrun Ensslin. Damals war nicht nur die bundesdeutsche Gesellschaft aufgewühlt, Staat und Regierung steckten in einer schweren Krise.
Als ostdeutsche Protestpartei etabliert
Tempi passati, das ist vorbei. Allerdings deuten viele Anzeichen darauf hin, dass Deutschland – ausgehend von den drei Landtagswahlen – wieder einen turbulenten Herbst mit Veränderungen erleben wird, die das politische Geschehen auf lange Jahre bestimmen dürften. Sämtliche Meinungsumfragen belegen schon seit Monaten, dass die sprunghaft an Zulauf gewinnende rechtspopulistische AfD mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht bloss eine kurzzeitige Erscheinung ist, sondern sich als ziemlich stabile, besonders ostdeutsche Protestpartei etabliert hat. Auch wenn sich die Stimmung zugunsten der seit 30 Jahren in Sachsen regierenden CDU und der ebenfalls über drei Jahrzehnte in Brandenburg führenden SPD in jüngster Zeit wieder ein wenig verbessert zu haben scheint, dürften beide am Sonntag beträchtliche Verluste hinnehmen müssen.
Klar, die aus alten bundesdeutschen Zeiten gewohnten politischen Stabilitäten mit CDU/CSU und SPD sowie einer liberalen FDP, die bei Regierungswechseln eine ausgleichende Rolle spielte, haben sich ohnehin schon durch das Aufkommen der Grünen und der vor allem im Osten bestehenden Akzeptanz für die mehrfach umgetaufte einstige DDR-Herrschaftspartei SED (heute Die Linke) verändert. Ausserdem sind regionale „Denkzettelwahlen“ etwa in der Hälfte einer Legislatur-Periode des Bundestages nichts Ungewöhnliches, weil viele unzufriedene Bürger „denen da oben“ Dampf machen möchten. Aber in diesem Herbst ist so ziemlich alles anders.
Verändertes gesellschaftliches Klima
In Deutschland hat sich ganz einfach das gesellschaftliche Klima verändert. Sicher, es hat mit den „Republikanern“ und der NPD immer wieder mal am rechten Rand des politischen Spektrums Ausreisser gegeben. Aber das waren zumeist nur relativ kurzzeitige Erscheinungen. In aller Regel funktionierte die einst vom CSU-Vorsitzenden Franz Josef Strauss ausgegebene Parole „Rechts von uns darf es keine demokratische Kraft geben“.
Hinzu kam, dass zumindest in den ersten fünf Jahrzehnten nach dem Krieg die vorausgegangene Nazi-Herrschaft mit ihren grauenhaften Begleiterscheinungen und Hinterlassenschaften gegen nationalistische Exzesse immun gemacht hatten. Und auf Linksaussen gab es für die kommunistische DKP ohnehin im Westen keine Chance, solange die DDR ihre abschreckende Wirkung entfaltete.
Dass dies nicht mehr gilt, hat etliche Gründe. Mangelnde Bildung oder fehlende historische Kenntnisse gehören dazu. Anstand, Erziehung, Rücksichtnahme, Hilfsbereitschaft, Höflichkeit, sprachliches Ausdruckvermögen ebenfalls – also kurz das, was früher einmal (altmodisch, aber treffend) als „Kinderstube“ bezeichnet wurde.
Doch die wirkliche Ursache, dass die deutsche Gesellschaft mittlerweile so gespalten ist, hängt ganz einfach mit dem Oberbegriff „Migration“ zusammen. Da mögen Politologen, Soziologen, Psychologen, Seelen- und Verhaltensforscher noch so sehr alternative Erklärungsversuche in Form von Studien und Forschungsaufträgen publizieren – die einfache Antwort liegt in dem tatsächlich seit 2015 von Wahl zu Wahl geradezu sprunghaft wachsenden Zulauf zur rechtspopulistischen AfD.
Kein Zutrauen mehr zum Staat?
2015, das war jener dramatische Herbst, in dem Hunderttausende aus den nahöstlichen Kriegsgebieten über Griechenland und den Balkan ins europäische Kerngebiet flüchteten. Fast alle mit dem Ziel Deutschland. Es soll hier nicht ein weiteres Mal die Frage nach der Verantwortlichkeit für die Grenzöffnung gestellt und auch nicht erneut nach Alternativen geforscht werden. Tatsache ist, dass nach einer kurzen Phase der künstlich proklamierten „Willkommenskultur“ die Sorgen und Ängste der heimischen Bevölkerung vor der Zukunft und gegenüber „den Fremden“ explosionsartig anstiegen. Und: dass die etablierte Politik darauf keine überzeugenden Antworten wusste – und im Grunde bis heute nicht weiss.
Wenn aber der Staat, die demokratischen Parteien, die verantwortlichen Politiker im Bund und in den Ländern den Menschen keinen Halt geben, dann schlägt automatisch die Stunde der Populisten und der Demagogen. Erinnert sich noch jemand an die Aussage des heutigen AfD-Chefs Alexander Gauland vor vier Jahren: „Man kann diese (Flüchtlings-)Krise als ein Geschenk für uns bezeichnen!“? Damals taumelte die AfD um eine Zustimmungsquote von etwa 5 Prozent herum. Zurzeit kann die Partei jede kriminelle Tat eines Migranten, jedes – mitunter tatsächlich unbegreifliche – Urteil eines Verwaltungsgerichts zugunsten von abgelehnten Asylbewerbern, jede (nicht selten sogar nur scheinbare) soziale Bevorzugung gegenüber Deutschen praktisch unmittelbar in zusätzliche Wählerstimmen ummünzen. Um es neudeutsch auszudrücken: Die AfD hat einen „flow“.
Sprachbarrieren eingerissen
Nun sind ganz gewiss bei weitem nicht alle Wähler und schon gar nicht sämtliche Sympathisanten dieser scheinbaren „Alternative“ zu den von ihr so betitelten „Systemparteien“ aus dem politischen Boden geschossene Nationalsozialisten oder auch nur Träger solchen Gedankenguts. Vor allem die Einbrüche bei CDU und CSU zeigen ja drastisch, dass ein Grossteil der AfD aus „eigentlichen“ Konservativen besteht, also dem traditionellen christdemokratischen und -sozialen Milieu entstammt.
Diese Gruppierung fühlt sich auch gar nicht nur von der ungewohnten Situation mit den vielen Migranten überfordert. Es sind vielmehr die drastischen Einwirkungen weltpolitischer und wirtschaftlicher Vorgänge auf das eigene Leben, die für Viele nicht mehr überschaubar sind. Dazu kommen hausgemachte Entscheidungen wie die Abschaffung der Wehrpflicht oder die von heute auf morgen beschlossene und in der Geschwindigkeit nur schwer nachzuvollziehende Energiewende.
Diese politische Heimatlosigkeit macht anfällig für einfache Parolen. Wir müssen uns vom „Brüsseler Diktat“ lösen, lautet eine solche. Die Grenzen schliessen, heisst eine andere. Dann werde alles wieder gut. Vor allem dann, wenn man die „Sozialschmarotzer“ aus dem Lande schmeisse. So etwas hat es auch früher immer mal gegeben. Aber die Stimmen sind untergegangen. Jetzt hingegen nehmen sie zu und, wie Gauland einmal sagte, die AfD testet die Grenzen des Sagbaren aus. Antisemitismus wird plötzlich wieder sagbar.
Auschwitz und sechs Millionen ermordete Juden? Das ist doch Vergangenheit, klingt es aus der Partei. Man müsse endlich eine „erinnerungspolitische Wende um 180 Grad“ vornehmen, fordert einer der rechtsradikalsten Köpfe, der thüringische extremistisch völkisch-nationale AFD-Landes- und Fraktionsvorsitzende Björn Höcke, der sich auch schon mal einreiht, wenn in Chemnitz glatzköpfige Horden mit Hitlergruss und Nazi-Sprüchen durch die Strassen ziehen. Das alles ist, fraglos, schon schlimm genug. Doch wirklich Besorgnis erregend ist, dass so etwas möglich ist, ohne dass sich die vielleicht doch nachdenklich gebliebenen „Mitläufer“ davon abgestossen fühlen.
Nicht nur Ostdeutschland
Warum diese ausführliche Beschreibung? Weil die Ergebnisse der Landtagswahlen in Sachsen, Brandenburg und später Thüringen ohne Frage das parteipolitische Gefüge nicht nur in Ostdeutschland durcheinanderzubringen drohen. Zwar sind die Umfragewerte für die AfD in den vergangenen Tagen wieder etwas zurückgegangen. Doch ganz ausgeschlossen ist es immer noch nicht, dass sie sowohl im Potsdamer als auch im Dresdener Landesparlament sozusagen aus dem Stand zur stärksten Kraft erwachsen könnten.
In Erfurt erscheint diese Gefahr nicht ganz so virulent, weil der dortige Ministerpräsident Bodo Ramelow (ein ursprünglich aus Niedersachsen stammender Gewerkschafter) mit seiner rot-rot-grünen Koalition in den vergangenen Jahren deutlich Boden gewinnen und die bis dahin stärkste Kraft (CDU) überflügeln konnte.
Die Meinungsumfragen mit Blick vor allem auf Brandenburg und Sachsen ergeben skurrile Bilder. Bei der Frage nach Beliebtheit der Führungspolitiker oder Regierungskompetenz hat die AfD kaum nennenswerte Zustimmungswerte aufzuweisen. Hier punktet die CDU (Sachsen) mit dem unermüdlich wahlkämpfenden Regierungschef Michael Kretschmer deutlich. Ähnliches bietet sich mit dem SPD-Mann Dietmar Woidke und der SPD in Brandenburg. Beide Parteien regieren in den beiden Ländern jeweils seit 30 Jahren, mitunter sogar mit absoluter Mehrheit. Und beiden Parteien werden herbe Verluste vorhergesagt.
Abenteuerliche Koalitionen
Wieder befindet sich die AfD in einer komfortablen Lage. Da sämtliche „herkömmlichen“ Parteien Bündnisse mit den rechtspopulistischen „Schmuddelkindern“ ausgeschlossen haben, können sie sich zum einen in einer Opferrolle präsentieren und brauchen – zum anderen – den Nachweis einer inhaltlichen Regierungsfähigkeit nicht zu erbringen. Wie immer es am Sonntagabend ausgehen wird, es ist nicht unwahrscheinlich, dass inskünftig Regierungskonstellationen zustande kommen müssen, die bisher als undenkbar ausgeschaltet waren.
Denn: Wie sollte es denn weitergehen, wenn das beschworene Aussen-vor-Halten der AfD nicht anders möglich sein sollte als durch ein Zusammengehen etwa von CDU und SPD (oder umgekehrt) mit Hinzunahme von FDP, Grünen und Linken? Würde das Gefühl von Zwang zu gemeinsamer Abwehr einer Art von rechtsradikal betriebener „Machtübernahme“ in Sachsen und Brandenburg stark genug sein, um lieb gewonnene ideologische Welten und auch persönliche Animositäten zu überwinden? Etwa zwischen der CDU und den Rechts- und Politiknachfolgern einer Partei (SED), die nicht nur einen ganzen Staat heruntergewirtschaftet, sondern darüber hinaus die Lebensläufe und Berufskarrieren von abertausenden Menschen zerstört hat?
Bei diesen durchaus realistischen Gedankenspielen blieben bisher zwei Aspekte ausgeklammert. Erstens: Wie werden die Grünen am Sonntag abschneiden? Und zweitens: Welche Auswirkungen werden die Voten der Sachsen und der Brandenburger auf die Berliner CDU/CSU-SPD haben? Was einst die Kriegsflüchtlinge für die AfD waren, das ist seit einiger Zeit das Klima-Thema für die einstige Sonnenblumen-Partei. Beide haben jeweils in hohem Masse davon profitiert.
Auch dies ist wieder ein Beweis für die Zerrissenheit der Gesellschaft in Deutschland. Es stimmt, das aktuelle grüne Führungsduo Robert Habeck/Annalena Baerbock ist erkennbar bemüht, seine Partei neben dem Klimawandel und der Fürsorge für Flüchtlinge auch für die bislang völlig vernachlässigten sozialen Sorgen der Menschen etwa in den ostdeutschen Braunkohlegebieten und wegen der Sicherheit an den Grenzen zu Polen und der Tschechischen Republik sensibel zu machen. Doch ob sie dabei mit differenzierten Aussagen gegen die einfachen Parolen von rechts punkten können, ist fraglich.
Beben in Berlin?
Natürlich hat die AfD auch in Westdeutschland ihre Sympathisanten. Auch dort sind Sorgen und Ängste vor „Überfremdung“ vorhanden. Aber eben bei weitem nicht in dem Ausmass wie in den östlichen Ländern. Umso stärker richtet sich hier der Blick auf mögliche Konsequenzen der Landtagswahlen für den Bund. Und zwar selbstverständlich in erster Linie auf die SPD.
Die älteste deutsche und einst so stolze Partei von Kurt Schumacher, Willy Brandt und Helmut Schmidt befindet sich in einer – man kann es nicht anders bezeichnen – katastrophalen Lage. Auch die aktuellen Umfragen für die Sonntagswahlen sagen ein neues Fiasko voraus. Man muss sich das auf der Zunge zergehen lassen: die Sozialdemokratische Partei Deutschlands unter zehn Prozent! Und es gibt keine Hoffnung auf Besserung! Allein schon die jämmerliche Suche nach einer neuen Führung! Wegducken scheint hier erste Genossenpflicht. Und wenn dann doch schon mal jemand den Finger hebt, dann nicht mit erkennbarem Machtanspruch, sondern allenfalls kleinlaut mit der Einschränkung „wenn man mich will“.
Keine Frage, die Mehrzahl der Genossen möchte aus der Grossen Koalition mit der Union raus. Man empfindet diese wie eine tödliche Umklammerung und die Abwendung so vieler früherer Wähler als ungerecht. Tatsächlich aber tragen die Koalitionsverträge dieses und des Bündnisses davor ganz eindeutig die sozialdemokratische Handschrift. Und viele, vor allem soziale Verbesserungen gehen ohne Zweifel auf das Konto der SPD-Kabinettsmitglieder. Aber es war und ist wie fast immer in dieser Partei: Statt stolz das Erreichte nach aussen zu tragen und (auch wenn es im Kompromiss war) zu verteidigen, stand die Partei allenfalls halbherzig zu ihren Erfolgen. Wie sollen da die Wähler überzeugt werden?
Mit hoher Sicherheit werden die Ergebnisse am Sonntag zu einem Beben auch in Berlin führen. Auch zu einem Platzen der dortigen Koalition? Die Nagelprobe darauf dürfte sich eher erst im Dezember ergeben, wenn der SPD-Parteitag über die neue Führung und voraussichtlich die politische Zukunft insgesamt entscheidet. Auf jeden Fall kündigt sich eine politische Zeitenwende an.