Das war durchaus völkerverbindend, denn ich war nicht lange zuvor aus Deutschland mit meinen Eltern eingereist, beherrschte den Schweizer Dialekt nur ungenügend, und meine fussballerischen Fähigkeiten waren auch überschaubar.
Der Anpfiff
Aber immerhin, ich wurde geduldet, wohl vor allem deswegen, weil ich im Besitz eines Fussballs war und ohne mich nur eine ungerade Zahl von Spielern auf dem Platz gestanden hätte. Also tschutteten wir so vor uns hin, bis der Anpfiff des ersten Spiels der Gruppe B der Fussball-WM in England nahte: Bundesrepublik Deutschland gegen die Schweiz. Die Meinungen auf dem Platz waren gemacht: 21 Spieler setzten auf einen sicheren Sieg der Schweiz, einer auf Deutschland.
Alle eilten nach Hause, und das Schicksal nahm seinen Lauf. Held, Haller, Beckenbauer, nach der ersten Halbzeit stand es bereits 3 : 0 für Deutschland. Meine Eltern rieten mir schwer ab, die Pause für einen kurzen Triumphzug in den Schachen zu benützen. Nach 90 Minuten stand es 5 : 0, nochmal Beckenbauer und Haller. Selbst der warnende Hinweis meines Vaters, dass er immerhin als Arzt am Kantonsspital Aarau in der Notaufnahme für die Erstversorgung garantieren könne, vermochte mich nicht davon abzuhalten, mit stolzgeschwellter Brust in den Schachen zu eilen.
Merkwürdiger Nationalstolz
Nationalstolz gehörte in unserer Familie in keiner Weise zu den Gebräuchen. Aber Fussball, wie jede sportliche Massenveranstaltung, setzt offenbar sonst nicht vorhandene Nationalgefühle frei. Nur weil der gleichen Nation angehörende Fussballer das Leder geschickter bewegen können als ihre Gegner, erfüllt einen das mit einem merkwürdigen Wir-Gefühl. Man siegt mit, man leidet mit, distanziert sich aber bei einer Niederlage sofort von den Versagern, einer Schande für den eigenen Volksstamm.
Sicher auch angetrieben von der Unbedarftheit, die man mit zehn Jahren so hat, rannte ich also aufs Fussballfeld im Aarauer Schachen. Tatsächlich hatten sich dort auch die gleichen Mitspieler wieder versammelt. Fröhlich stimmte ich in berlinerisch gefärbtem Hochdeutsch meine Triumphgesänge an. Und verstand nicht alles, was mir auf Schweizerdeutsch geantwortet wurde, da wir uns zu Hause immer noch mit Ratespielen beschäftigten wie: «Was ist denn eigentlich ein Güggeli, und wenn es ein Broiler ist, was unterscheidet es von einem Poulet, und ist das nicht Französisch?»
Aber, ich erlebte mein erstes Schweizer Wunder. Ich wurde nicht verprügelt. Ich wurde nicht vom Platz gejagt, obwohl inzwischen sogar ein zweiter Fussball aufgetaucht war, es meinen also nicht mehr gebraucht hätte. Ich wurde nicht mal gross beschimpft. Sondern man zeigte Nachsicht mit mir. Historisch gebildetere Mitspieler erinnerten mich an das «Wunder von Bern», andere meinten, dass man das den Deutschen nach zwei verlorenen Weltkriegen doch gönnen solle. Zwei andere Jungen outeten sich als Tschinggen und machten darauf aufmerksam, dass dieses Spiel sowieso bedeutungslos sei, da doch Italien am Schluss gewinnen würde.
Erkenntnisgewinn
Was mir damals im zarten Alter von zehn Jahren wohl noch nicht bewusst war: Neben aller provinziellen Miefigkeit, die Aarau damals hatte, wenn diese Bemerkung eines «frömde Fötzel» gestattet ist, bei allen verständlichen und auch unverständlichen Ressentiments, denen man damals als «Sauschwob» begegnete: Hurrapatriotismus gab und gibt es hierzulande nicht. Dafür eine gute Portion Toleranz. Die strapazierte ich allerdings etwas, als ich in der Primarschule darauf hinwies, dass ich doch wohl beim Musikunterricht das Lied «Ich bin ein freier Schweizerknab» nicht mitsingen müsse.
Ich erinnere mich auch an eine Kanti-Studienreise ins deutsche Ruhrgebiet, viele Jahre später. 1974, ich war inzwischen des Schweizerdeutschen fliessend mächtig, und wir betraten irgendwo in Essen oder Bochum am Abend eine Kneipe. Fröhlich scherzend, vor allem über das Tor, dass der DDR-Fussballer Jürgen Sparwasser am 22. Juni in der Vorrunde gegen die BRD erzielt hatte; Sieg für die DDR.
Von Anfang an herrschte in der Kneipe eine Stimmung wie nach einer Beerdigung, und als es den versammelten deutschen «krieg ’n Bier und noch’n Korn»-Trinkern bewusst wurde, dass wir zwar Ausländer sind, aber uns doch tatsächlich in unserem ansatzweise verständlichen Dialekt darüber lustig machten, dass die BRD von der DDR im Fussball auf die Schnauze gekriegt hatte, mussten wir schnell, sehr schnell den mehr oder minder geordneten Rückzug antreten. Unsere Nachhut fing sich dabei ein paar Tritte und ein blaues Auge ein.
Eines ist aber klar
1966 setzte die BRD bekanntlich ihren Triumphzug bis ins Endspiel gegen England fort. Und wenn ich damals mit Nationalstolz und Fussballerfreude schon nicht sehr viel anfangen konnte, so hat sich das mit zunehmendem Alter noch weiter verflüchtigt, wenn das überhaupt möglich ist.
Aber es gibt eine felsenfest in Stein gemeisselte Tatsache im Fussball, die nur ein völlig vaterlandsloser deutscher Geselle zu bestreiten wagte: Das englische Tor im Endspiel in der 101. Minute zum 3 : 2 war nicht drin. Niemals nicht. Das war eine Fehlentscheidung des Schweizer Schiedsrichters. Sonst kann man im Fussball über alles diskutieren, und möge der Bessere gewinnen.