„Umtriebig“ lautet das Eigenschaftswort, das man bei Charakterstudien zu Bundesrätin Calmy-Rey am häufigsten liest und hört. Auch die Wörter „kantig“, „provokativ“ und „selbstherrlich“ kommen in solchen Studien oft vor. Von aussen gesehen hat man den Eindruck, sie müsse ihre Schuhe wirklich nie schmieren, dass sie, wie ihre Kritiker nicht müde werden zu betonen, von einem Fettnapf in den andern trete.
Fehler in der Libyen-Krise - und kritische Fragen an die Kritiker
Und es hat schon etwas an sich: Sie gleicht einer Selbstläuferin, deren Talent, immer wieder neue Angriffsflächen zu bieten, unübersehbar ist. Ob sie auf dem Rütli eine 1. August-Rede hält, in Korea die Grenze zwischen Süd und Nord mit einer Schweizerfahne (und in roten Schuhen) überschreitet oder Israel bei dessen Angriff auf den Libanon Unverhältnismässigkeit vorwirft – ihre bürgerlichen Gegner reagieren regelmässig äusserst empört. Dies allerdings im Gegensatz zum „gewöhnlichen“ Volk, das ihre Eigenwilligkeiten gar nicht so ungern sieht und ihr in Beliebtheitsumfragen verhältnismässig gute Noten erteilt.
Der Grund ihres miserablen Abschneidens in der heutigen Wahl liegt aber offensichtlich in der Libyen-Krise. Das Zeugnis, das ihr die ständerätliche GPK vor ein paar Tagen ausgestellt hat, ist in der Tat nicht erhebend. Calmy-Rey hat eigenmächtig oder eben selbstherrlich gehandelt. Und hat Fehler gemacht. Es ist richtig, diese offen und deutlich zu benennen. Allerdings muss man sich auf fragen: Wer hätte in jenen schwierigen Wochen und Monaten keine Fehler gemacht?
Hätten die, die post festum ihr Maul am weitesten aufrissen, insbesondere die Herren der SVP, die Lage souverän gemeistert? Immerhin ist es der Diplomatie von Calmy-Reys Aussendepartement zu verdanken, dass die von Gadaffi festgehaltenen zwei Geiseln nach Hause zurückkehren konnten. Zum Vergleich: Die Supermacht USA, die EU, Amnesty International und insbesondere Frankreich, von seiner Geschichte her in Nordafrika ungleich besser vernetzt als die Schweiz, mussten bedeutend länger für die Befreiung der in Libyen inhaftierten bulgarischen Krankenschwestern kämpfen.
Eine Art Putschversuch
Solche Aspekte müssten, wenn über eine Person geurteilt wird, ebenfalls in Betracht gezogen werden. Dazu gehören andere Erfolge der Schweizer Diplomatie wie die Vermittlung zwischen der Türkei und Armenien oder der pragmatische Kurs in der Europapolitik (Schengen-Abkommen, Personenfreizügigkeit für die neuen EU-Länder), mit dem unser Land bisher nicht schlecht gefahren ist.
Der historische Negativ-Rekord dieser Wahl ist indes nicht nur eine Schlappe für Calmy-Reys, er ist auch ein Symptom für den Zustand der sogenannten politischen Elite. Alle Parteien anerkannten, dass die Reihe für das Bundespräsidium an der Aussenministerin sei (die sie übrigens erst vor drei Monaten zur Vizepräsidentin gekürt hatten). Sie taten es unter Berufung auf das Anciennitätsprinzip und die Konkordanz. Doch dann, in der Anonymität der Wahl, versuchte eine starke Minderheit doch so etwas wie einen Putsch.
Wenn schon, hätte diese Minderheit mit offenem Visier handeln und eine Gegenkandidatur aufstellen müssen. Sie tat es nicht. Vordergründig macht man noch immer auf Konkordanz, hintergründig herrscht das Prinzip „alle gegen alle“. Solches Doppelspiel bereitet offenbar vielen Herren und Damen im Bundeshaus Spass. Nach aussen verstärkt es einmal mehr den Eindruck, die Beschäftigung mit sich selbst sei ihnen wichtiger als die Bestellung eines guten Terrains zur Lösung von Problemen.
Das Ego bändigen
Bundesrätin Doris Leuthard hat ihr Präsidialjahr alles in allem mit Bravour absolviert. Umso schwieriger wird es für ihre Nachfolgerin werden. Das Parlament hat Calmy-Rey nicht auf ihrer Seite (weniger als die Hälfte der anwesenden Deputierten hat ihr die Stimme gegeben). Das schlechte Wahlresultat dürfte auch ihr Prestige im Bundesratsgremium, das sie nun leiten wird, eher mindern als fördern. Gleichzeitigt hat sie das Land zu repräsentieren. Das kann nur gut kommen, wenn sie ihr Ego zu bändigen weiss und bereit ist, neben der eigenen Wahrheit auch die anderer gelten zu lassen.
Der Wink mit dem Zaunpfahl ist deutlich: Sie wird in ihrem Präsidialjahr unter verschärfter Kontrolle stehen. Und sollte sie den Ehrgeiz haben, bei den Erneuerungswahlen von 2011 nochmals zu kandidieren, müsste sie, wie man sagt, an sich arbeiten – und dies mehr als an ihrer Politik.