«De-risking», Verkleinerung der Risiken hinsichtlich der Abhängigkeit Europas von China, lautet, sinngemäss, das von EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen präsentierte Programm, das offiziell den etwas sperrigen Titel «Ansatz der EU zur Stärkung der wirtschaftlichen Sicherheit» trägt.
Konkret visiert es eine grosse Zahl von Innovations- und Investitionsprogrammen an, deren Gemeinsamkeit darin besteht, dass im Europa der 27 Mitglieder der Europäischen Union unternehmerische Projekte gefördert werden, im Bereich der Chip-Produktion und der Herstellung von Basis-Materialien für Medikamente vor allem.
Was passiert, wenn China Taiwan angreift?
Dem europäischen Ansatz krass entgegen steht der US-amerikanische. Zwei Tage lang nach dem Besuch von Aussenminister Blinken in Peking gab es, scheinbar, Tauwetter. Dann rutschte Präsident Joe Biden (wieder einmal) verbal aus, indem er den chinesischen Präsidenten nicht nur einen Diktator nannte (das ist er tatsächlich, aber wer mit China auch nur halbwegs konstruktiv zusammenarbeiten will, sollte sich diplomatischer ausdrücken), sondern ihm auch noch, lachend, unterstellte, er habe nicht einmal vom Flug eines chinesischen Ballons über den amerikanischen Kontinent Kenntnis gehabt. Ha, ha … Seither herrscht zwischen Washington und Peking wieder Eiszeit, d. h., das, was Blinken diplomatisch geschickt erreicht hatte, ist wieder Makulatur.
Dass anderseits ganz Europa, auch wir in der Schweiz, in schwerwiegende Abhängigkeit von China, letzten Endes auch vom Goodwill der autokratischen Führung des Landes, geraten sind, wurde schon beim Ausbruch der Corona-Pandemie erkannt. Damals wurden zig Grundstoffe für die pharmazeutische Branche knapp, wegen Produktions-Engpässen und Problemen bei den Lieferketten. Politiker und Manager gelobten, alles in ihrer Macht Stehende zu tun, um Ähnliches für die Zukunft zu verhindern. Wenig Fassbares geschah danach. Es brauchte die politische Zuspitzung des China-Problems in der Folgezeit, d. h., die Eskalation der Spannungen um Taiwan, die aufkommenden Kriegs-Ängste, um den Westen aufzuschrecken.
Hundertmal schmerzhafter
Was, wenn Xi Jinping sich wirklich dazu entschliessen würde, Taiwan anzugreifen (seit dem Überfall Russlands auf die Ukraine scheint das nicht mehr unmöglich)? Dann müsste man ja wohl gegen China Sanktionen ergreifen, wie sie ab 2022 und mit steigender Intensität gegen Putins Russland erlassen worden sind. Die Folgen für uns in Europa aber, die wären hundert Mal schmerzhafter – die Wirtschaft Europas hängt oder hing mit Russland im Wesentlichen im Bereich der Energie, des Erdöls und des Erdgases zusammen. Davon konnte man sich ohne gewaltige Verwerfungen (aber mit grossem Effort) lösen. Und was europäische Firmen in Russland investiert hatten, ist zwar nicht «quantité négligeable», aber auch nicht existenziell. Ganz anders für China. Allein schon die deutsche Automobilindustrie hat Dutzende Milliarden Euro in China angelegt, und würde der chinesische Markt für deutsche Autos einbrechen, gerieten alle grossen Firmen der Branche in existenzielle Schwierigkeiten. Umgekehrt hat China bis 2022 in Europa über 450 Milliarden investiert (die Schweiz rangiert mit 61,2 Milliarden an zweitoberster Stelle, nach Grossbritannien).
Schon die nüchternen Wirtschaftszahlen zeigen, wie intensiv Europa mit China verwoben, wie gross die Abhängigkeit ist.
Nun beinhaltet ein breitflächiges mediales Narrativ im Westen ja: Böse Chinesen! Sie treiben die Afrikaner in die Schuldenfalle und uns in eine ausweglose Situation. China habe die halbe Welt, schon durch die so genannte Seidenstrassen-Initiative mit der Inbesitznahme von Häfen wie jenem von Piräus oder von Colombo auf Sri Lanka, in Abhängigkeit gezwungen. Nun, niemand hat Griechenland genötigt, die Anlagen von Piräus an halbstaatliche oder schein-private chinesische Unternehmen zu verkaufen. Es war einfach so, dass sich keine griechischen Manager, auch nicht die Regierung in Athen, verpflichten wollten.
Man kauft, was billiger ist
Es gab auch nie einen Zwang für französische Mode-Luxus-Marken, wesentliche Anteile ihrer Produktion nach China zu verlagern – man tat das aufgrund von Profit-Denken: die Herstellung von teuren Täschchen beispielsweise in China war preisgünstig, also nahm man die finanzielle Beteiligung an der eigenen Unternehmung durch die Chinesen dankbar entgegen.
Dass China später, als die Löhne respektive die Herstellungskosten im eigenen Land stiegen, die Produktion nach Äthiopien auslagerte (und dort das weltweit grösste Werk für textile Waren aufzog), sah niemand voraus. Von einem Vorort von Addis Abeba aus kommen nun eben die «französischen» Täschchen, finanziert von Chinesen, aus Afrika zurück in die Luxus-Boutiquen europäischer Städte – wen kümmert das? Aber auch dass nun die überwiegende Menge von Basis-Materialien für die in Europa verkauften Medikamente in China hergestellt werden, geht nicht auf Erpressung durch die «bösen» Chinesen zurück, sondern schlicht auf «Gesetze» der Marktwirtschaft. Und letzten, allerletzten Endes, auf den Willen von Konsumentinnen und Konsumenten: Man (das heisst die grosse Mehrheit) kauft das, was preisgünstiger ist.
Die Konsumenten entscheiden über die Abhängigkeit
Was zur Frage führt, ob die von der EU-Kommissionspräsidentin verkündete neue Strategie zu Erfolg führen kann. Wenn Chips, Basis-Materialien für Medikamente etc. in Europa hergestellt werden, wird das einen Preis haben. So lange als die Konsumentinnen / Konsumenten noch eine Wahlmöglichkeit haben und allenfalls auch nach dem (noch in weiten Fernen liegenden) Produktions- und Verteilungsstart auf dem eigenen Kontinent eine eigene Entscheidung treffen können, werden sie das preisgünstigere Produkt wählen.
Das heisst, letzten Endes ist es die Konsumentin / der Konsument, die oder der über die grosse Weltpolitik entscheiden wird. Nicht an der Wahlurne, sondern im Supermarkt.
Man kann oder muss wohl schlussfolgern: Grosse Politik und grosse Strategien schön und gut, aber in dieser globalisierten Welt ist es der Alltags-Markt, der entscheidet.