Alle Organisationen, die sich mit Afghanistan befassen, schlagen Alarm: Das Welternährungsprogramm der Uno schreibt, 98 Prozent der Befragten in dem seit August von den Taliban beherrschten Land hätten nicht genug zu essen. «Save the Children» erwartet, dass in diesem Winter 14 Millionen Kinder Hunger leiden werden. Das «International Rescue Committee» nennt Afghanistan als das weltweit am gravierendsten von Armut betroffene Land.
Akzeptieren wir das einfach so? Ist die so genannte Weltgemeinschaft tatenlos, will oder kann sie die Not nicht wenigstens etwas lindern? Sind wir alle abgestumpft und sind die schockierenden Bilder der Verzweifelten am Tag der Flucht des afghanischen Präsidenten und danach der westlichen «Helfer» in US-amerikanischen Flugzeugen vom Flughafen Kabuls vergessen?
Viele humanitäre Organisationen versuchen, Hilfe ins Land zu bringen – und scheitern mehrheitlich an Barrieren, welche die Politik errichtet hat. Man kann das Problem zunächst in zwei Frage-Sätzen erfassen: Wie soll man mit den Taliban umgehen? Muss man ihr Regime diplomatisch anerkennen – oder soll man es isolieren?
Wer mit den Taliban geschäftet, wird bestraft
Was zunächst abstrakt und theoretisch wirken mag, lässt sich leicht auf die praktische Ebene heben: Die Taliban unterliegen, als Guerilla-Kämpfer, auch noch nach der Machtübernahme internationalen Sanktionen. Also wird bestraft, wer mit ihnen geschäftet, ihnen Waren oder Geld zuschanzt oder auch durch ihre «Hände» Hilfe für die Bevölkerung leisten will. An der Spitze der Mächte, die das durchsetzen wollen, stehen die USA. Deren «Ideologie» besagt ja sogar, dass irgendeine Institution, die den US-Dollar für Transaktionen für eine sanktionierte Körperschaft nutzen will, bestraft werde. Deshalb wurden nicht nur geschäftliche Verbindungen mit irgendwelchen Instanzen, mit denen die Taliban in Verbindung standen oder weiterhin stehen, riskant, sondern auch die Aktivitäten von NGOs zugunsten der notleidenden Bevölkerung.
Dass das alles von Widerspruch durchzogen ist, ist eigentlich offenkundig: Sanktioniert sind die Taliban als Miliz respektive als bewaffnete Kraft – aber sind sie es auch als Mitglieder einer Regierung? Offenkundig nicht generell. Als «Terroristen» allerdings gelten, aus der USA-Perspektive, jene Minister, die aus dem so genannten Al-Haqqani-Netzwerk kommen. Also bleibt die Frage, wie man, respektive wie US-Amerika mit den in Kabul Herrschenden, der neuen Regierung insgesamt, umgehen will.
Widersprüchliche amerikanische Haltung
Das Widersprüchliche ist allerdings nicht neu – die Trump-Regierung verhandelte ja in Doha, Qatar, lange mit Taliban-Repräsentanten, ohne sich um «Finessen» hinsichtlich der von der eigenen Regierung erlassenen Sanktionen zu kümmern. Und ebnete so den Weg für den Sturz der «alten» Regierung Afghanistans und die Machtübernahme durch die Glaubenskrieger.
Ähnlich widersprüchlich ist die Haltung der USA auch jetzt, unter Präsident Biden, im Hinblick auf Hizbullah in Libanon. Die US-Politik betrachtet Hizbullah als schiitische Miliz und, weil Israel-feindlich, als Terrororganisation und ignoriert, dass Hizbullah im Parlament Libanons und sogar in der Regierung vertreten ist. Wäre «Washington» konsequent, müsste es die ganze libanesische Regierung als «Terrororganisation» abqualifizieren.
Das tut sie natürlich nicht – sonst müsste sie ja ihre diplomatischen Beziehungen zu Beirut abbrechen.
Widersprüchliche Sanktionspolitik
Das ganze Konglomerat von US-amerikanischen Mechanismen im Bereich von Sanktionen und Brandmarken als Terrororganisation ist generell widersprüchlich – oder genauer: Es gibt sich gerne als juristisch «feinfühlig», ist aber in Wahrheit mehrheitlich von politischen Interessen geprägt. Weshalb setzte, beispielsweise, Donald Trump die iranischen Revolutionsgarden auf die Liste der Terror-Organisationen? Die Garden wurden zwar dominierend innerhalb der Streitkräfte Irans, aber strukturell sind sie ähnlich gelagert wie beispielsweise in den USA die Marines – eine parallel zu den «normalen» Streitkräften organisierte Elite-Einheit (nun ja, das muss auch erwähnt werden, mit ausufernden Machtansprüchen in der iranischen Wirtschaft). Weshalb entfernte die US-Regierung in den letzten Tagen der Trump-Präsidentschaft die kolumbianische FARC von der Terror-Liste – und warum wurde der Organisation der iranischen Volksmujaheddin (harte, auch gewaltbereite Gegner des iranischen Regimes, dank US-Vermittlung jetzt in Albanien stationiert) die gleiche Gnade im Jahr 2012 (Obama-Präsidentschaft) zuteil? Das waren alles politische (oder opportunistische) Entscheide.
Und ähnlich steht es jetzt um Afghanistan. Es gibt eine Menge Gründe, die Herrschaft der Taliban diplomatisch nicht anzuerkennen. Weil die ehemaligen «Töffli-Krieger» eine Willkür-Herrschaft errichtet haben, die allgemeinen Menschenrechte ignorieren, Frauen und religiöse Minderheiten diskriminieren etc. Die Frage aber stellt sich: Gäbe es nicht doch Möglichkeiten, vom Prinzip des Sanktionen-Mechanismus soweit Abstand zu nehmen, dass humanitäre Hilfe für das Land möglich würde?
Die Zeit drängt, die Hunger- Katastrophe am Hindukusch wird, wenn nicht entschlossen gehandelt wird, entsetzliche Tatsache.